Was wir heute als WIEN MITTE kennen, zählte schon lange vor seiner eigentlichen Entstehung zu den meistdiskutierten Architekturprojekten der 1990er Jahre. Architekt Laurids Ortners Entwurf eines “Innenstadt-Hochhauses” polarisierte damals die hiesige Architekturszene, ebenso wie “die Wiener”. Wissen muss man in diesem Zusammenhang, dass Ortner & Ortner (Laurids und Manfred Ortner) eine ganz ähnliche Auseinandersetzung bei ihrer Gestaltung des Wiener Museumsquartiers, für das sie auch verantwortlich zeichnen, erlebten. Ebenso wie der für dort geplante “Leseturm” wurde auch in WIEN MITTE die Idee eines Turms nach jahrelangem Hin und Her verworfen. Ab 2006 wurde der Nachfolge-Entwurf der Architekten Henke Schreieck umgesetzt, ohne Highrise. 2012 konnte der erste Bauteil eröffnet werden, 2013 wurde das Areal in seiner heutigen Form fertiggestellt.
Bildende Kunst spielte überraschender Weise schon in der Bauzeit eine wichtige Rolle. Big Names wie Gottfried Helnwein und Erwin Wurm (er inszenierte u.a. Elfie Semotan oder Karl Merkatz) wurden ebenso eingeladen, mit „Kunst am Bau“ zu intervenieren, wie auch jüngere Kunstproponentinnen wie Rita Nowak und Esther Stocker. Dass die entstandenen Arbeiten dann für eine sehr ungewöhnliche, weil couragierte Werbekampagne von Seiten des Bauträgers aufgegriffen wurden, ist bis heute in Erinnerung.
Die Betreiberin von WIEN MITTE wechselte im Laufe der Jahre, das Couragierte und Kunst als selbstverständlichen Teil des Angebots wahrzunehmen, scheint geblieben zu sein. So kooperiert die CC Real, die seit 2015 für das Gebäudemanagement verantwortlich zeichnet und zur Tour einlud, seit einigen Jahren mit Kunstinstitutionen der Nachbarschaft und des Bezirks.
Sonja Weinstabel und ihre Agentur „What about the Future“ stellt dafür die Verbindungen her und brachte auch den Streetart Künstler Emanuel Jesse mit. Begonnen hatte alles mit der Bemalung der Lüftungstürme, ging weiter über vormals dunkle Durchgänge und mündet in ein unlängst fertiggestelltes In-Situ Projekt am Dach. Thematisch blieb sich der deutsche Künstler auf mittlerweile rund 600m2 Wandfläche treu und stellt die im benachbarten Stadtpark und in der Umgebung durchaus schon gesichteten „Stadttiere“ in den Mittelpunkt. So bevölkern Füchse und Enten, Igel und Eichhörnchen seine grafischen, mit pastelligen Farbakzenten gestalteten Bildlandschaften in WIEN MITTE.
Der Übergang vom Zweidimensionalen ins Dreidimensionale interessiert den Künstler, der gerne von „mobilem Atelier“ und dem künstlerischen Arbeiten an architektonisch definierten Orten erzählt. Eine besonders große Wand in einem Lichthof gestaltete er assoziativ freier – es ist ein sogenanntes Schüttbild, bei welchem er die Farbe poetisch die Wand runtertropfen lässt. Vom Making-of – Gebirgskletterer kamen Jesse zu Hilfe – entstand dieses Video.
Seit 2018 gibt’s inmitten des ebenfalls hier beheimateten Einkaufszentrums The Mall, auch eine KUNSTWAND. Alle sechs Monate wird eine neue Arbeit von Studierenden, zuletzt der Angewandten, im aktuell präsentierten Projekt in einer Kooperation mit der Klasse ‚Erweiterter malerischer Raum‘ von Daniel Richter ausgewählt und realisiert. Die Auswahl erfolgt mittels eines klasseninternen Wettbewerbs, WIEN MITTE unterstützt die Umsetzung mit 2.500 Euro Honorar und Produktionsbudget. Aktuell ist eine Wandarbeit von Cecilia Schaaf aus Frankfurt und Simon Hezel aus Wien, die gemeinsam unter dem Namen hezelschaaf auftreten, zu sehen. Es ist eine Textarbeit, sie erinnert entfernt an konkrete Poesie der Wiener Gruppe, und titelt mit „2MUCH2SOON“. Man möchte es eine Bricolage nach Claude Lévi-Strauss nennen; (Einschub: ein Begriff aus der Anthropologie, der für ein Verhalten steht, bei dem der Akteur (Bricoleur) mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen Probleme löst, statt sich besondere, speziell für das Problem entworfene Mittel zu beschaffen). Worte und sich in alle Richtung windende Pfeile sind da zu sehen. Im Umfeld von The Mall lässt sich das als Konsumkritik lesen oder – wie es im Erläuterungstext steht – als Verweis auf eine in den Jugendjahren der beiden Kunststudierenden entstandenen biographischen Leerstelle.
55 Tausend Menschen kommen täglich in Wien Mitte vorbei, als Einkäufer, weil sie ihr Büro hier haben, oder einfach nur um in die nächste U-Bahn zu steigen. „2MUCH2SOON“ wird dem einen oder der anderen als Gedankenanstoß hängen bleiben. Und damit hat man als Urban Hub und Shopping Mall ja schon mal so einiges erreicht.
Roland Pinz von CC Real sagt dazu: „Einkaufen ist heute mehr denn je ein Inspirationsparcours, im besten Fall ansprechend für alle fünf Sinne. Architektur und von ihr geschaffene Atmosphäre, Licht, Wegführung, Farben – vieles spielt hier eine Rolle für ein gelungenes Erlebnis. Bildende Kunst in dieses Umfeld zu integrieren ist nicht selbstverständlich, aber wie man hier hoffentlich sehen kann, kann sie eine Bereicherung sein.
Am Dach, das normalerweise nur für jene benutzbar ist, die hier ihre Büros haben, wurden 3.200 Pflanzen angesiedelt; (durch Landschaftsarchitekt Clemens Lutz von Kaufmann + Partner). Gibt man dem Ganzen noch ein bisschen Zeit zum Wachsen, ist es nicht ausgeschlossen, dass hier hoch oben, tatsächlich eine Mikro-Fauna-Flora-Oase wie sie Künstler Emanuel Jesse schon mal aufzeichnete, entsteht. Seit Mai 2022 schwärmen schon mal 280.000 fleißige Bienen aus; rund 160kg Honig wurde in dieser Saison aus den vier Bienenstöcken geerntet und – hallo, Kreislaufwirtschaft – dieser Tage am hausinternen Weihnachtsmarkt vom Imker verkauft.
WIEN MITTE The Mall – www.wienmitte-themall.at