Schriftstellerin und Künstlerin. Warum verwendest du beide Begriffe? Was beinhaltet der eine, was der andere nicht?
Mich bezüglich richtiger Selbstbezeichnung zu entscheiden, einen Begriff für mich zu wählen, kohärent sein zu wollen, das alles war einmal schwierig. Dass ich die beiden Begriffe Künstlerin und Autorin gewählt habe, ist der philosophischen Rechnung von eins und eins gleich drei zuzuschreiben. Ich sehe mich in beiden Begriffen und bin doch noch mehr, könnte auch noch anfügen, dass ich Reisende bin, dass ich für einen Hund verantwortlich bin, dass ich Leserin bin, dass ich eine männliche Seite in mir fühle oder dass ich Europäerin bin, oder wie schwer oder lang ich bin. Was soll man sagen über sich selbst? Wie soll man sich bezeichnen?
2007-2010 gab es in der Schweiz den Salon Billa. Dein Projekt, dein Raum. Wie erinnerst du dich an diese Periode und was war die Magie dieses Ortes?
Mein Salon war die Manifestation meiner Verlorenheit in der Welt und eine trotzig-schöne Reaktion auf jene. Die Magie des Ortes war, dass es ihn überhaupt gab. Angefangen habe ich mit einem kurzen Stück grüner Faden, den ich zusammengerollt in einem Plastiktütchen von innen ans Schaufenster geklebt hatte. Beschriftet mit Pulli-Embryo. Mehr nicht. Das Interesse war geweckt. Ein paar Wochen später fing ich an, mehr Dinge einzuräumen. Der ganze Einrichtungsprozess war immer sichtbar. Die Zeit, in der ich den Salon betrieb, war für mich dann nahezu atemlos und mit viel Arbeiten verbunden. Ich textete an meinem Radio-Magazin und für Kunden als freie Mitarbeiterin im Hinterzimmer des Salons. Von Donnerstag bis Samstag war der Salon offen. In der Zeit fing ich auch an, aufzutreten und mich als Autorin, vorher nur als Stimme am Radio hörbar, zu zeigen. Es war eine gute, lebendige Zeit. Menschen traten ein, angezogen von den Bildcollagen, die ich an die Wand klebte oder von den Büchern und Arbeiten, die ich im Schaufenster auslegte.
Viele Begegnungen waren bedeutungsvoll, oder wurden es über kurz oder lang. Der Ungar, seine Tochter, Frau Petra, Ellen, Silja, Pascal, Martin.
Ich hatte große Lust, meine Sicht auf die Dinge zu teilen und zu diskutieren. Es war eine Art Noch einmal Erleben eines jugendlichen Traumes. Ich wollte nach wie vor keine Freundschaft mit dem Wort Realität schließen.
Was bedeutet für dich teilen? Ich beziehe mich jetzt auf dein Teilen von Ideen, Playlists zu erstellen oder mit Studentinnen Writing Classes zu machen?
Teilen hat viele Bedeutungen, eine moralische, eine mathematische und eine kommunikationspsychologische. Letztere „schulden“ wir den sozialen Medien, wo alles geteilt werden will. To share bedeutet in jenem Sinne ja nicht direkt „etwas zu teilen“, sondern eher Aufmerksamkeit zu fordern. Also ist teilen heute gleich schenken? Für mich bedeutet das Verschenken von Ideen, das du ansprichst: Ich gebe dir die Idee, mach mit ihr was du willst. Über die Wirkung eines Geschenkes weiß ich nicht wirklich viel, selbst dann nicht, wenn jemand sich bedankt. Ob er das Geschenk gebrauchen kann? Ob sie es gut und schön findet? Ich weiß es nicht. Manche fühlen sich auch bedrängt von Geschenken, in meinem Fall von meinen Ideen. Teilen kann nur, wer zu viel hat. Ich bekomme zum Beispiel immer wieder neue Ideen. Ob die nun für eine Vielheit oder sogar für eine Allgemeinheit gut oder machbar sind, beurteile ich nicht. Ich stelle sie mir immer sehr real vor. Ich bedenke vielleicht die Umwelt, die sozialen Seiten, suche also das aus meiner Sicht Sinnvolle darin – aber nicht, was das alles kostet, wieviel Zeit man aufwenden oder wen man davon überzeugen müsste. Im letzten Jahr kamen so viele neue dazu, dass ich angefangen habe, sie an jene Menschen zu verschenken, die sich für meinen Newsletter angemeldet hatten. Schenken wird aber nicht immer auf Augenhöhe ausgehandelt, sondern es ist etwas, was jemand zu geben hat oder was man teilen muss (hier die moralische Bedeutung), damit alle etwas davon haben. Wenn ich etwas zu geben habe, dann kann ich nicht erwarten, dass die anderen das auch haben wollen. Also muss ich erwartungslos geben. Auch wenn ich etwas habe, das ich teilen muss, weil die Situation prekär ist, dann bedeutet das noch nicht, dass die anderen davon haben wollen. Also muss ich zuerst fragen. Sonst wird es übergriffig.
Musik teile ich mit Freunden, also ich verschenke Playlists. Aber Musik vermische ich auch gerne mit Literatur. Ich habe angefangen so zu arbeiten, als ich einen Sendeplatz beim Radio bekam. Auf Hoher See hieß meine Sendung, ein Mix aus gelesener Literatur, Sounds & Songs und Wellengang. Die Sendung dauerte eine Stunde und ich produzierte sie einmal pro Monat.
Dann gibt es auch das Teilen von Können, also das Austauschen und Ergänzen von Wissen und Erfahrung. In einer Writing Class gingen wir zur Vorbereitung zusammen spazieren. Ich stelle mich und mein Zuhören und Denken zur Verfügung, versuche anzuregen oder aufzuregen, um die jeweils individuellen Motivationen der Teilnehmenden zu stärken. Ich will sie ermächtigen, ihr eigenes zu finden. Ihren Ton, ihre Themen, ihren Schreibstil. Zudem bin ich interessiert an den Gedanken, die wir austauschen können. Weil auch hier eins und eins nicht zwei ergibt, sondern immer ein vorläufiges Resultat, das im besten Fall zum Weiterdenken verleitet.
Wie lange lebst und arbeitest du in Italien? Wie beeinflusst diese Periode dein Schaffen? Wie entstand der Photo Essay „Strandläufer, lungomare“?
Ich habe immer wieder über Monate oder Wochen in Italien gelebt. Ich mag es, mehrere Orte zum Leben und Arbeiten zu haben. Eigentlich brauche ich einfach mein Gerät, damit ich arbeiten kann. Aber Tapetenwechsel sind wichtig. Seit Herbst 2018 habe ich hier an der Adria meinen Wohnsitz und wohne zusammen mit meinem Partner und unserem Hund auf einem Hügel unweit vom Meer. Seit ein paar Jahren teile ich mit anderen Kunstschaffenden ein Atelier in Berlin, wo ich also auch ab und zu bin. Mich beeinflusst, was ich sehe und höre, vor allem auch wie die Menschen miteinander umgehen, wie sie leben oder leben wollen, was sie tun und warum, ihre Sprache. Die Umwelt eines Ortes zu beobachten, inspiriert mich immer, falls sie nicht allzu geputzt und gewollt ist, sondern sich in Bewegung befindet. Ich habe sogar ein autostrada Gedicht geschrieben. Die italienische Sprache ist wortreich. Viele Begriffe sind mehrdeutig. Eine romanische Sprache so gut zu kennen hat meine Horizonte erweitert und also mein Denken verbreitert. Dafür bin ich unendlich dankbar. Strandläufer, lungomare entstand an der Adria, also da wo ich heute lebe. Vom Frottiertuch aus habe ich sozusagen aus sicherer Distanz angefangen zu arbeiten.
Ich beobachtete, dass Männer im Sommer eher alleine dem Ufer entlang gehen. Ich fotografierte und dachte nach, dann schrieb ich einen Essay über die Beobachtungen und meine Gedanken. Später ist ein Photo Essay daraus entstanden, das im Amsel Verlag in Zürich erschienen ist.
Wie wirst du gesehen in dem Ort? Gibt es manchmal auch Fluchtgedanken?
Ich glaube, ich bin einfach quella alta bionda. Oder la Svizzera. Das ist ja oft so, dass man dem Land, wo man herkommt, zugehörig sein soll. Damit muss man sich abfinden oder wie eine Freundin aus Schottland, die auch hier lebt, sagt: As strangers we are free, because they never expect that you understand them and their traditions or habits. Ich habe nur manchmal Sehnsucht nach Stadtluft. Dann gehe ich. Aber Fluchtgedanken sind anders. Die kenne ich aus anderen Zeiten.
Gibt es Künstlerinnen, Schrifstellerinnen, die dich inspirieren? Könnte man eine Liste machen oder ist es unmöglich? Leonora Carrington, Marina Abramovic, Joseph Conrad, Tracey Emin, JR, Khruangbin, Robert Lax, Christoph Büchel, Nick Cave und Warren Ellis, Rebecca Solnit, Laurie Anderson, Isabelle Krieg, Alessandro Baricco, Margaret Mazzantini, Stewart Brand, Halldor Laxness, Marilynne Robinson, Pierre Haski, Wu Ming, Paul Thomas Anderson.
Was liegt gerade auf deinem Desktop? Wo sind die unveröffentlichten Sachen gespeichert?
Auf meinem Desktop liegen gefühlt tausend Sachen, Anfänge, unveröffentlichte Texte, Ideen zu Arbeiten. Dann auch Notizen, Links, Bilder und Screenshots. Alles immer aufgeräumt zu halten, ist leider nicht mein Ding. Aber ein Ordner will ich besonders hervorheben. Beschriftet ist er mit Done is Better than Perfect… Ich stelle immer Erwartungen an mich und denke, ich würde viel Zeit für eine gewisse Arbeit brauchen. Und dass ich auch noch alle möglichen Bücher über irgendwelche Details lesen müsste. Ich denke oft, dass mein Wissen nicht genügt. Aber ich packe an, arbeite, zweifle und mache nicht fertig. Erst nach und nach werden die Arbeiten zu Werken und vor allem in den Phasen, wo ich mich vorübergehend genügend mit Befähigungsattributen und Werkzeugen ausgestattet wahrnehme. Also habe ich mir aus einem Interview mit einer Schriftstellerin den Tipp „Done is Better than Perfect“ herausgeschnitten und damit diesen Ordner beschriftet. Das hilft. Manchmal. Sie hatte ihn übrigens von ihrer Mutter erhalten. In dem Ordner befinden sich die aktuellen Arbeiten. Ich will lernen, sorgfältig mit der Zeit umgehen und nicht zu hadern oder die Perfektion zu suchen, wo ich doch vor allem am Prozess interessiert bin. Natürlich muss eine Veröffentlichung dann gut klingen, gut lesbar sein, aber das kommt auch auf die Gegenübers an. Ein Publikum, die Lesenden, Interessierte. Ich kann nur soweit arbeiten, bis es mir gefällt. Danach werden andere entscheiden, ob es ein Werk weiter schafft als ich jetzt denken kann.
Performance. Was bedeutet für dich das Medium? Was ermöglicht es? Und wie bereitest du dich für einen Auftritt vor?
Der Begriff Performance ist fluide. Mich interessieren solche Formen, wo ganz viel möglich ist an Begegnung und Berührung. Natürlich verliere ich mich dann darin oder ich traue mich nicht, noch mehr zu wagen. Noch mehr zu sagen, meine ich damit vor allem. Aber da muss ich durch, immer wieder. Mir den Platz schaffen, auch wenn ich mich eher als eine ruhige Person mit einer ergo „quiet position“ empfinde. Ich brauche also Ruhe und Menschen, die zuhören wollen. Die Vorbereitung auf einen solchen Auftritt, der nach wie vor mit Lampenfieber verbunden ist, kann mal mit einem oder zwei Glas Ouzo, mal mit Atemübungen, mal mit „ich rede vernünftig mit mir im Spiegel“ und mal mit „ich will doch gar nichts zeigen“ verbunden sein und so auch mehr oder weniger gut vorbereitet sein. Proben, aber nicht zu viele, sind allerdings selbstverständlich. „Nicht zu viele“ sage ich, um eine Performance (bei mir meistens aus Text und Sound bestehend) nicht so zu verdichten, dass sie bzw. ich nicht mehr zugänglich ist/bin. Das hat auch mit dem Zulassen von Unperfektsein zu tun. Dadurch biete ich absichtlich auch eine Offenheit und Verletzbarkeit an. Und darin entstehen so Momente, in denen alles stimmt.
Hast du einen Talisman? Braucht man einen Talisman?
Mein Talisman ist nichts, was ich mir als Maskottchen um den Hals binde, sondern mein inneres Bild von mir. Ich kann es nicht deutlicher beschreiben. Ich habe halt so eine Idee von mir, die mich hält und begleitet und die, wenn ich sie nicht vernachlässige, mir auch immer Glück bringt und Türen öffnet. Ich finde, ja, auf deine zweite Frage hier: Man braucht eine Idee von sich. Das muss nicht immer mit der jetzigen Realität übereinstimmen und kann es manchmal auch gar nicht, aber es hält einen ganz gut beisammen.
Werden die Arbeitstitel in deine Arbeiten abgeleitet?
Manchmal ja, manchmal nein. Es gibt keine Struktur in meinen Arbeitstiteln. Meistens entnehme ich die Worte den ersten Impulsen einer Idee, also bevor ich eine Arbeit gestalte. Damit gehe ich dann ein Stück weit, bis ich den Titel hinterfrage und ganz oft dann doch übernehme. Ich bin eine von Worten und Ideen Getriebene, es ist nicht das Material oder die Form oder das Medium, das mich zu einer Arbeit weckt. Es sind Worte und Ideen.
Du hast einen Beitrag zum Buch der Liebe geleistet. In ihm sind Werke von Oscar Wilde, Marina Abramovic, John Baldessari, Banksy und Ricarda Huch zu sehen und zu lesen. Was bedeutete es für dich, an diesem Buch mitzuwirken und wie hast du die Liebe interpretiert?
Ich wurde von den Herausgebern (Roland und Christian Wittwer) angefragt und habe gerne zugesagt. Dass ich in so illustrer Gesellschaft sein würde, habe ich da noch nicht gewusst. Mein Beitrag ist ein Gedicht. Es ist keine Interpretation von Liebe, sondern ein Spuk, ein sich im Nachtlicht, das auf die Haut trifft, reflektierendes Wiedersehen. Einander sehen, ohne einander anfassen zu können, also darum geht es, aus der Ferne jemanden zu lieben. Das ist verwunschen und auf eine zerbrechliche Weise perfekt. Sobald die beiden Menschen einander gegenüber stehen, ist der Zauber Vergangenheit. Im besten Fall beginnt ein neuer oder alles bricht ab. Hier kann man über das 600 Seiten starke Werk etwas mehr erfahren: www.love-is.ch
Woran arbeitest du gerade und was hast du in Aussicht für dieses Jahr?
Ich arbeite an verschiedenen Werken. Wichtig in diesem Jahr sind zwei Hörstücke. Wichtig ist für mich zudem, dass ich meinen Kurzfilm „Wie man sich selbst als Fisch zeichnet“ an Festivals zeigen kann. Im Sommer bin ich nach Schweden eingeladen deswegen. Wichtig wird auch die Arbeit an meiner neuen Website. Wichtig ist aber vor allem, dass ich in Ruhe arbeiten kann. Auch daran muss ich immer wieder arbeiten, also daran, dass ich arbeiten kann und mich weniger ablenken lasse.
Autorin und Künstlerin Sibylle Ciarloni (*1969, Lenzburg Schweiz) denkt nach über die human condition, besonders über die Bewegungen von Transformation und Anpassung. Ihre Werkzeuge sind Sprache, Hochrechnung und Wiederholung. Ciarloni arbeitet mit verschiedenen Medien. Neue Produktionen sind der Sprechtext „Monolog einer Zimmerpflanze“ und eine audio-visuelle Arbeit „Wie man sich selbst als Fisch zeichnet“. Die Künstlerin hat in den Nullerjahren mit dem Radiomagazin „Auf hoher See“ auf sich aufmerksam gemacht. Es folgten Lesungen in Open Spaces, u.a. Royal Baden CH, Bar Babette in Berlin D und Rote Fabrik in Zürich. Ciarloni lebt und arbeitet heute an der italienischen Adriaküste bei Ancona.
Sibylle Ciarloni – www.sibylleciarloni.com
Fay Arnold Agency – www.agentfay.net
Erka Shalari (*1988, Tirana) ist eine in Wien wohnhafte Autorin, die sich mit Kunst befasst. In ihrer Arbeit konzentriert sie sich einerseits auf die Entdeckung internationaler junger und aufstrebender KünstlerInnen, andererseits mit ungewöhnlichen Ausstellungsräumen, Non-Spaces und Galerien. Sie setzt auf unorthodoxe Publikationserfahrungen. Eine leichtfüßige Herangehensweise, verbunden mit unkonventionellen Blickwinkeln, zeichnen die Produktionen (Artikel für Magazine, Ausstellungstexte, Press Releases) von Erka Shalari aus.