Die Serie enthält auch einige Buchstabenarbeiten, wie etwa „LONG“. Solche typographischen Abbildungen sind ja nicht gerade typisch für deine Arbeitsweise. Wie kam es denn zur Entwicklung dieser außergewöhnlichen Darstellungen und was wolltest du weiters mit diesen Arbeiten reflektieren?
Die Buchstabenarbeiten stellen eine Besonderheit dar. Ich muss schon sagen, dass ich, obwohl ich eine Faszination für Buchstaben, Wörter, Orthografie und Sprache nicht leugnen kann, sie zunächst als graphische Elemente in meine Arbeit eingebaut habe. Typographische Zeichen als von ihrer Bedeutung losgelöste Formen. Ihre Ecken, Rundungen, Bäuche, sperrige und sich grazil windende Linien. Bei diesen Arbeiten gelingt es mir, viel großzügiger mit der Fläche umzugehen. Mit ihrer Bedeutung, die in den meisten Buchstabenarbeiten auch tatsächlich zu erkennen ist, kommt eine weitere Ebene hinzu. Bei der Bedeutungsebene ist mir wiederum eine Uneindeutigkeit sehr wichtig, oder vielmehr eine Pluralität an Auslegungsmöglichkeiten, eine gewisse Mehrdeutigkeit und Vagheit. Die Arbeit O.T. (LONG) ist beispielsweise mit 3 Metern ausgesprochen lang, hat also einerseits eine messbare Ebene. LONG kann sich aber auch auf etwas Zeitliches beziehen, wie die Serie Not Long Now, aus der sie stammt und obendrauf bedeutet das englische to long, sich (nach jemandem/etwas) sehnen.
Zeichnen ist ja nicht nur zeitintensiv, sondern auch ein materialgebundenes Medium. Wie schlägt sich das inhaltlich in deinen Arbeiten nieder?
Ich sehe da ganz klar die Spur – im konkreten wie im übertragenen Sinne – als Anknüpfungspunkt an die Materialität. Niedergebrochen auf ihre einzelnen Elemente, besteht jede Zeichnung ja aus tausenden Einzellinien, die wiederum viel Information über ihre Entstehungsweise enthalten. Durch Auftragsdicke, -dunkelheit, -richtung zeigt sich, wie fest mit welchem Mittel gearbeitet wurde und auch das Bewegungsmoment lässt sich nachverfolgen. Das Material spielt also nicht nur für mich eine zentrale Rolle im Entstehungsprozess, im Handling der fertigen Arbeit, sondern auch für die Betrachtenden. Durch das Begutachten der Arbeit aus der Ferne und (nächster) Nähe kommt wirklich immer eine gewisse Sensibilität und Faszination für die eingesetzten Mittel zum Vorschein. Das ist mitunter ein Grund, weshalb ich sehr für das Live-Erleben meiner Arbeiten plädiere, keine (digitale) Reproduktion kann dieses Erlebnis getreu wiedergeben und dadurch entgeht einem die Essenz.
In der Tat deine Arbeiten leben wirklich von dieser Überraschung.Kommen wir nun noch auf die Bezeichnung „O.T. (Ohne Titel)“ zu sprechen, die ja ein bemerkenswertes Paradoxon abbildet, weil sie eigentlich auf den fehlenden Bildtitel verweist, aber zugleich etwas Bestimmtes kommuniziert. Du benennst deine Werke meistens mit O.T. (Ohne Titel), vereinzelt gibt es dann doch konkrete Vorschläge. Wie siehst du das?
Die Serien haben immer konkrete Titel und bezeichnen das übergeordnete Thema, wenn man so will. Die einzelnen Zeichnungen sind fast ausschließlich mit O.T. bezeichnet, wobei das auch schon eine Menge Information enthält. Ob ausgeschrieben oder abgekürzt, in welcher Sprache es geschrieben steht, oft befindet sich auch ein beschreibendes Wort in Klammer. Damit sage ich eigentlich schon sehr viel. Ich überlege mir auch ganz genau, in welcher Schreibung was erscheint. Dass ich dadurch die Wahrnehmung in eine Richtung lenke, ist mir zwar nicht recht, aber bewusst. O.T. ist also der Hinweis auf die vage Komponente, die ich mitgeben möchte und die ich dem deutschen Sprachraum zugänglich mache. Weiters gefällt mir die Abkürzung, die das Konzept auf das Kürzeste herunterbricht.
Zum Abschluss noch: Welche Rolle spielt Wahrnehmung für dich?
Wahrnehmung ist alles. Und vor allem drei Dinge. Wahrnehmung als Vorstufe des Erkennens ist ein Zustand, in dem Innehalten bei der Betrachtung meiner Arbeiten wünschenswert wäre. Es gibt immer den Wunsch, in abstrakten Formen Konkretes zu erkennen, was uns jedoch daran hindert, mit dem Auge an der Form entlangzugleiten und sich im Dickicht der Striche zu verlieren.
Ein anderer Aspekt des Wahrnehmens ist mein Wahrnehmen. Alles, was mir begegnet und widerfährt, findet im Grunde Eingang in meine künstlerische Praxis. So eigne ich mir meine Umgebung an, reflektiere sie und ermögliche wiederum anderen einen Einblick in mein Erleben.
Als dritte Art der Wahrnehmung möchte ich die Aufmerksamkeit nennen, die dem Umfeld zuteilwird und auch der Austausch damit. „Man muss sich auch für andere interessieren“, hat Gunter Damisch einmal gesagt und ich glaube, was er damit gemeint hat, ist, wenn alle nur ihr eigenes Süppchen kochen, gibt es nie eine Minestrone.
Lavinia Lanner – www.lavinialanner.com
Über die Interviewerin: Paula Marschalek, BA MAS ist eine österreichische Kunsthistorikerin und Kulturmanagerin. Sie studierte Kunstgeschichte an der Universität Wien und setzte ihre Ausbildung an der Universität für angewandte Kunst fort, wo sie ihren Master in Kunst- und Kulturmanagement abschloss. Sie arbeitete in renommierten Kunstinstitutionen wie dem Dorotheum und dem Kunsthistorischen Museum, sammelte Erfahrungen am Kunstmarkt als Kommunikations-managerin bei der Galerie Rudolf Leeb und absolvierte von September 2019 bis März 2020 ein Kulturmanagement-Stipendium im MAK Center in Los Angeles, USA. Sie schreibt Texte für Kunstmagazine. Mit Marschalek Art Management entwickelt sie individuell zugeschnittene Kommunikationsstrategien für Kunst- und Kulturschaffende. www.marschalek.art