Es knackt, kracht und knistert beim Betreten der aktuellen Schau im Kunstraum Niederoesterreich. Zu hören ist das elektronisch bearbeitete Ächzen eines schmelzenden Gletschers, aufgenommen von der Künstlerin Caterina Gobbi irgendwo auf den entlegenen Höhen des Mont Blanc: ein Sound, der nichts Gutes verheißt – ein akustisches Dokument der Verheerungen des Anthropozäns und die Lebensäußerung einer Entität, der wir Lebendigkeit (Subjektivität, Agency etc.) in der Regel absprechen. Nessuno crede a ciò che non è mai successo – „Niemand glaubt, was nie passiert ist”, hat Gobbi ihre Installation genannt. In der Tat: Die Klimakrise steht auch für eine Glaubenskrise. Mit ihr kommt eine zentrale Lebenslüge der westlichen Moderne an ihr Ende: dass der Mensch über die Natur erhaben sei.
Mit der von Kunstraum-Leiterin Frederike Sperling kuratierten Gruppenausstellung Matrix Bodies präsentiert der Kunstraum Niederoesterreich sechs Perspektiven auf das Verhältnis von Natur und Mensch, die mit dieser Vorstellung radikal brechen. Natur begegnet uns hier nicht als das „verfemte Andere” der Zivilisation, sondern als eine Entität eigenen Rechts, mit der wir, die Menschheit, uns arrangieren müssen – ob wir wollen oder nicht.
Was das heißt, haben wir in den vergangenen drei Jahren Pandemie schmerzlich zu spüren bekommen. Das Corona-Virus hat uns brutal mit der Tatsache konfrontiert, dass wir Teil eines planetaren Ökosystems – mit eigenen Regeln – sind: Mit Viren lässt sich nicht verhandeln. Aber lassen sich vielleicht andere, stabilere Formen der Koexistenz mit ihnen finden? Geht es nach den Werken in Matrix Bodies, dann lautet die Antwort Ja. Eine Leitmetapher der Ausstellung ist die sogenannte Virosphäre, „the vast but poorly understood universe of viruses”, wie der Kulturanthropologe Eben Kirksey schreibt.
Seine These: Ein Außerhalb der Virosphäre gibt es nicht. Mit jedem Atemzug, jedem Schluck Wasser, den wir zu uns nehmen, so Kirksey, gelangen Millionen viraler Partikel in unseren Körper – von den unzähligen Viren, die immer schon Teil unseres Organismus sind, ganz zu schweigen. Viren sind schlicht überall. Ihre Population übersteigt die Zahl der lebenden Zellen auf dem Planeten um ein Vielfaches. Und: Ihre Rolle besteht mitnichten nur darin, diesen Zellen das Leben schwer zu machen. „These infectious agents“, betont Kirksey, „are world-forming as well as world-destroying. They are nomadic – constantly floating among cells, bodies, and populations, jumping species and moving between domains of life.“ Viren als integraler Part der Biosphäre?
Klein- und Kleinstlebewesen (Pilze, Insekten, Bakterien etc.) trenden bekanntlich schon seit einer ganzen Weile im Kunstfeld. Die Ausstellung tut denn auch gut daran, es mit der Virus-Referenz nicht zu übertreiben. Nicht nur in architektonischer, auch in kuratorisch-konzeptueller Hinsicht ist Matrix Bodies sympathisch offen und weitläufig angelegt. Am Ende dürfen (und müssen) die präsentierten Arbeiten für sich selbst sprechen.
Neben den Lautsprechern in Gobbis Installation (zu der neben dem beschriebenen Soundscape auch noch ein Video und eine Glasskulptur gehören) fällt beim Betreten der Ausstellung vor allem Sophie Utikals Textilarbeit Coexisting (2018) in den Blick: ein vierteiliges, in lichten Rosa- und Gelbtönen gehaltenes Stoffbild-Ensemble (in der Tradition der chilenischen Arpilleras), das sich über die gesamte Höhe des Ausstellungsraums erstreckt. Mit losem Bezug auf Octavia E. Butlers Sci-Fi-Klassiker Liliths Brood evoziert Utikal darin das Bild einer Art post-apokalyptischen Trauerprozesses: Wir sehen eine Figur, die den Verlust ihrer vertrauten Umwelt beweint, sich auf die Suche nach alternativen Kraftquellen begibt, sich schließlich aufrichtet und neue, symbiotische Verbindungen mit ihrer Umgebung eingeht. Vier Szenen der Trauer, die zugleich auch Szenen eines Neuanfangs sind.
Was westliche Gesellschaften gegenwärtig mühevoll neu erlernen müssen – einen nachhaltigen Umgang mit Natur und Umwelt –, ist in zahlreichen indigenen Kulturen ein selbstverständlicher Teil der Alltagspraxis. Was das bedeutet, können wir in Seba Calfuqueos Video-Performance TRAY TRAY KO (2022) beobachten. Selbst dem indigenen Volk der Mapuche in Chile angehörend, widmet sich Calfuqueo darin den progressiven Potenzialen indigener Spiritualität. Der Titel der Arbeit ist eine Anspielung auf das Mapuche-Wort für Wasserfall: Trayenko oder Traytrayko. In der Performance begibt sich Calfuqueo auf eine Art Pilgergang durch den chilenischen Regenwald, der schließlich mit einem Bad unter dem titelgebenden Traytrayko endet. Spirituelle und physische Regeneration gehen hier Hand in Hand. Ganz beiläufig lässt Calfuqueo das Bild einer Gesellschaft entstehen, die von dem Wissen der Natur profitiert, nicht indem sie sie plündert, sondern indem sie sich in einen intimen Austausch – auf Augenhöhe – mit ihr begibt.
Elemente einer solchen „ökologischen Utopie“ begegnen uns auch in Nona Inescus Bodenskulptur Meander (2020). Sedimentgestein und Edelstahl, Natur- und Werkstoff bilden hier keine Gegensätze, sondern Komplemente, die sich zu einem offenen System fügen – das Modell für eine Zukunft jenseits des Gegensatzes von Natur und Kultur? Etwas weniger versöhnlich ist der Ton, den die Künstlerin Josèfa Ntjam mit ihrer Fotomontage-Serie Underground Resistance – Living Memories #2, #3 & #4 (2023)anschlägt. Auf Remix-Techniken des gleichnamigen schwarzen Detroiter Techno-Kollektivs anspielend, kompiliert Ntjam darin Bilder aus der Geschichte unterschiedlicher dekolonialer Kämpfe mit Detailaufnahmen maritimer Ökosysteme, die sich hartnäckig gegen ihre drohende Vernichtung durch den Menschen zur Wehr setzen. Ntjam erinnert mit ihren Collagen daran, dass Kolonialismus und Umweltzerstörung zwei Seiten derselben Medaille sind: Produkt einer Gesellschaft, die der Aussicht auf Profit alles opfert – ihre Werte, ihre Lebensgrundlagen, ihre Zukunft.
© Nona Inescu, Meander, 2020, Installationsansicht, Photo © Markus Gradwohl, Courtesy © Nona Inescu, Meander, 2020, Installationsansicht, Photo © Markus Gradwohl, Courtesy
Wie könnte dagegen eine Gesellschaft aussehen, die sich vom Profit- und Wachstumszwang befreit hat? Ein paar Vorschläge hält Eglė Budvytytės Videoarbeit Liquid Power Has No Shame (2017) im hinteren Teil des Ausstellungsraums bereit. Der Schauplatz: die rauen Fjordlandschaften um das nordnorwegische Fischerdorf Henningsvær. Liquid Power Has No Shame ist das Dokument einer eigentümlichen post-humanen Ménage à trois: Drei aus Zeit und Raum gefallene Gestalten spüren darin in einer Serie eigenwilliger öko-erotischer Rituale den heimlichen Verflechtungen zwischen Körper und Umwelt nach – „to undo the instrumental relationships with the landscape and the world“, wie es in dem Video heißt. Ein hehrer Anspruch. Ob das Experiment gelingen kann? Wer es herausfinden will, hat noch bis zum 13. Mai Gelegenheit dazu. Es lohnt sich.
Ausstellung: Gruppenausstellung. Matrix Bodies kuratiert von Frederike Sperling
Künstler:innen: Eglė Budvytytė, Seba Calfuqueo, Caterina Gobbi, Nona Inescu, Josèfa Ntjam, Sophie Utikal
Dauer der Ausstellung: Fr, 24.03.2023 – Sa, 13.05.2023
Adresse und Kontakt:
Kunstraum Niederösterreich
Herrengasse 13, 1010 Wien
www.kunstraum.net