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Wien Kunst

Interview. RADICAL CARE

Das von Kuratorin Nora Mayr und Künstlerin Stephanie Winter von 5. November bis 31. Jänner präsentierte Projekt RADICAL CARE versteht Mutterschaft als politische Strategie und imaginiert eine Welt, in der Menschen verstärkt als Mutter im Sinne einer aktivistischen Form des Caring (dt. Sorgens) und nicht, wie seit Jahrhunderten von der westlichen Welt vorgelebt, als Eroberer und Ausbeuter agieren. Theoretischen Ausgangspunkt bilden dabei Philosophien des Ökofeminismus, die ökologische Fragen mit feministischen Analysen in Verbindung setzen.
Szenisches Labor RADICAL CARE von Stephanie Winter, Motherboard, 2021. Foto: Daniel Moshel.
Szenisches Labor RADICAL CARE von Stephanie Winter, Motherboard, 2021

Stephanie Winter ist Künstlerin, Regisseurin und immer wieder auch Kuratorin. Ihre Arbeiten wurden auf zahlreichen internationalen Festivals und Ausstellungen gezeigt. Sie ist Gründerin und künstlerische Leiterin von SALON HYBRID, einem performativen Büro für experimentelle Angelegenheiten, operierend zwischen den Feldern Bildende Kunst, Performance, Film & Theorie und betreibt seit 2021 den ökofeministischen Kunstraum MOTHERBOARD.

Nora Mayr ist freischaffende Kuratorin sowie Dozentin am Node Center for Curatorial Studies. Als Teil des kuratorischen Teams insitu collective betreibt sie von 2012 – 2017 den ausgezeichneten Projektraum insitu in Berlin-Schöneberg. Seit 2016 realisiert sie Projekte an internationalen Kulturinstitutionen wie der MeetFactory Prag oder dem Casino Luxembourg mit Fokus auf narrative und szenischen Ausstellungspräsentationen. Gemeinsam präsentieren sie von 4. November 2021 bis 31. Januar 2022 im Motherboard Zwischenstand eines einjährigen Dialoges zum Thema Mutterschaft und Ökofeminismus.

Stephanie Winter (li) und Nora Mayr (re). Foto: Daniel Moshel.
Stephanie Winter (li) und Nora Mayr (re)

Wie seid ihr auf das Projekt RADICAL CARE gekommen?
Stephanie: Vor etwa einem Jahr habe ich Nora gefragt, ob sie Lust hat, mit mir zum Thema Mutterschaft zu arbeiten. Ich hatte zu dem Zeitpunkt gerade das Motherboard neu aufgemacht, als eine Mischung aus Diskursraum und Labor, in das ich unterschiedliche Kolleg*innen, Künstler*innen, Expert*innen einlade, um gemeinsame Projekte und Experimente zu machen. Ich sehe es als einen Ort, an dem man voneinander lernen und sich gegenseitig inspirieren kann. Aus einer künstlerischen Perspektive interessieren mich hier Momente zwischen Impact und Theorie neu auszuloten.
Nora: Wir haben zuerst begonnen, aus unseren eigenen Perspektiven über Mutterschaft zu sprechen, haben dann aber relativ schnell entschieden, dass das, was uns an Mutterschaft interessiert, viel mehr ist als eine rein private oder körperliche Erfahrung. Wir haben also versucht, Mutterschaft mehr als Inspirationsquelle zu sehen. Daraus entwickelte sich nach und nach auch die Idee Mutterschaft als politische Strategie zu verstehen und Sorgearbeit mehr aus einer neuen ökofeministischen Perspektive zu betrachten.

Wie habt ihr RADICAL CARE in den Raum umgesetzt?
N: Für uns war von Anfang an klar, dass wir für die Bearbeitung der Fragestellung nach Mutterschaft als politische Strategie gemeinsam mit unterschiedlichen Akteur*innen, Künstler*innen, und Theoretiker*innen arbeiten wollen, und haben deswegen RADICAL CARE nicht nur als Ausstellung gedacht, sondern auch als Labor, Forschungs- und Handlungsort. Daher sehen wir die Ausstellung auch als szenisches Labor, gestaltet von Stephanie, das verschiedene Skulpturen und Handlungsobjekte beinhaltet und einzelne künstlerische Positionen präsentiert, darunter zum Beispiel Anna Witt und Claudia Lomoschitz, die sich auf jeweils eigene Weise mit dem Thema Mutterschaft beschäftigen.
Stephanie: Die Kernidee war es ein Labor zu schaffen, dass sich gemeinsam mit der inhaltlichen Entwicklung auch im Raum immer wieder neu definiert und umgestaltet, seine Stellungen verändert. Ebenfalls zentraler Aspekt des Raumes ist der Film „Gestures of Care“, für den wir gemeinsam mit wirklich wunderbaren Performer*innen in einer Art Workshopsituation ein Vokabular zu Gesten der Sorgearbeit und aktivistischen Handlungsmomenten erarbeitet haben. Die Performer*innen haben (Nada Darwish, Louise Deininger, Yusimi Moya Rodriguez, Imani Rameses, Josefin-Marie-Christin Sternbauer, Hannah Schranz und Nora Wahl) gemeinsam mit Julia Riederer (Choreographic Advisor) Begriffe wie Activism, Tenderness und Tupperware auf unterschiedliche Weise in den Körper übersetzt. Der Film “Gestures of Care” ist also eine Art Parfum aus dieser Vielzahl an Interpretationen.

Ausstellungsansicht mit Videoarbeit von Deirdre Donoghue “Kitchen Lecture: Notes on Gestures” (2009), 2021. Foto: Daniel Moshel
Ausstellungsansicht mit Videoarbeit von Deirdre Donoghue “Kitchen Lecture: Notes on Gestures” (2009), 2021

Ihr seht RADICAL CARE nicht als Endprodukt, sondern als immer noch am Wachsen und Entstehen. Welche neuen Impulse hat das Ausstellungsprojekt bisher gegeben?
Nora: Ein wichtiger Teil des ganzen Projektes waren mit Sicherheit die unterschiedlichen Veranstaltungen oder Gatherings wie z.B. die Artist Mother Nights in dem wir uns auf das Thema Kunst bzw. Arbeit und Mutterschaft konzentriert haben. Es wurden zum Beispiel existierende Frauennetzwerke aus der Kunst und Wirtschaft vorgestellt. Im Zentrum standen persönliche Erfahrungen, berufliche Barrieren und politische Notwendigkeiten.
Stephanie: Es gab auch einen Abend zum Thema Structural Care, in dem wir uns mit bestehenden Fördersystemen und Strukturen beschäftigt haben, die Mutterschaft und Kunstproduktion unterstützen. Hier hatten wir zum Beispiel einen großartigen Input von Daniela Koweindl, Sprecherin der IG Bildende Kunst, die Resultate aus Workshops und Interviews der IG zum Thema Kunst und Elternschaft geteilt hat.

Ein weiterer sehr schöner Abend war für uns Creating Eco Visions, der unterschiedliche aktivistische wie ökofeministische Potenziale innerhalb der Kunst in den Vordergrund gestellt hat.

Nora: Entlang kuratorischer und künstlerischer Projekte wie zum Beispiel von Marlies Wirth  (Vienna Biennale Climate Care 2021) oder Elisabeth von Samsonow (The Dissident Goddesses‘ Network) haben wir über Visionen eines ökologisch gerechten und feministischen Zusammenlebens gesprochen. Das starke Interesse, und auch die Notwendigkeit und der Wunsch nach einer Vernetzung der schon existierenden großartigen Projekte und Akteur*innen haben wertvolle Impulse gebracht, die wir auch in Zukunft weiter verfolgen wollen.

Ausstellungsansicht, links mit Videoarbeiten von Claudia Lomoschitz “Partus. Gyno Bitch Tits” (2021) und Anna Witt “Die Geburt” (2013), 2021
Ausstellungsansicht, links mit Videoarbeiten von Claudia Lomoschitz “Partus. Gyno Bitch Tits” (2021) und Anna Witt “Die Geburt” (2013), 2021

Stephanie: Ich finde, man bemerkt in den verschiedensten Bereichen den Wunsch nach Veränderung. Die gegenseitige Unterstützung wird immer wichtiger. Es zeigt sich immer mehr, dass man über die einzelnen Blasen hinaus – im gemeinsamen Agieren – besser in der Lage ist, Dinge in Bewegung zu bringen. Das ist natürlich nichts Neues, aber es ist nun mehr denn je an der Zeit, diese hermetischen Zonen wieder zu öffnen. Dabei ist es auch in Ordnung, dass es unterschiedliche Blickwinkel und Positionen gibt. Vor allem in einer feministischen Theorie, wo es ja unzählige Kritiken und Ansatzpunkte gibt, die sich aber auch gegenseitig vorantreiben, trotz ihren Differenzen. Wir haben es als sehr befruchtend empfunden, dass hier Personen aus unterschiedlichsten Feldern zusammenkommen, die eine Lust auf Impact haben und sich dabei gegenseitig inspirieren.

Was war für euch jeweils bisher das Highlight des Projektes?
Stephanie: Ich glaube, es gibt nicht so wirklich das Eine Highlight, sondern eher ganz viele großartige Abende und Gespräche, Zenite und Auseinandersetzungen. Tatsächlich würde ich sagen, dass genau diese Gespräche und das gemeinsame Weiterdenken neben dem tollen Feedback, das Highlight war, und zentral für unsere zukünftige Arbeit an dem Projekt ist.

Nora: Ich fand zudem auch die Atmosphäre des Raumes bemerkenswert, erzeugt durch die Handlung sich die Schuhe auszuziehen, und dann so auf einem gemeinsamen (Teppich) Boden zu stehen. Ich glaube, dass sich miteinander auf einem gemeinsamen Boden begreifen und auch miteinander im Raum zu sein, empfand ich als sehr bestärkend.

Stephanie Winter “Miracoulos Activist Mothering Artist Association Awards (MAMAAA) for Eco Care, for Structural Care, for Feminist Care”, 2021
Stephanie Winter “Miracoulos Activist Mothering Artist Association Awards (MAMAAA) for Eco Care, for Structural Care, for Feminist Care”, 2021

Dem kam dann leider (vorerst) ein Lockdown dazwischen. Waren die geplanten Events für euch trotz trotzdem ergiebig.
Stephanie: Es ist natürlich immer schön, sich physisch in einem Raum zu begegnen, wie Nora gerade aufgegriffen hat. Wir hatten aber tatsächlich von Anfang an viele Veranstaltungen im Hybrid-Format geplant, da wir viele Gäst*innen, und Sprecher*innen hatten, die gar nicht in Österreich bzw. Wien waren. Da war der Switch zu einem gänzlich digitalem Format relativ einfach. Und glücklicherweise hatten wir trotzdem ausführliche Online-veranstaltungen und -gespräche, die extrem fruchtvoll und spannend waren.

Die Ausstellung wird nun bis Ende Jänner on display sein – habt ihr seit der Eröffnung Abänderungen vorgenommen, Elemente verändert, hinzugefügt?
Nora: Der Raum hat sich wie gesagt während der gesamten bisherigen Ausstellungsdauer immer wieder verändert, je nach Zusammenkunft hat sich auch das Setting neu zusammengefügt.  Diese Tage sind wir noch einmal in der Lage, die kleineren, intimeren Gespräche vor Ort führen zu können, die in dieser Form wegen des Lockdowns einfach doch gefehlt haben. Aktuell sammeln wir auch die Nominierungen für unsere MAMAAAs (Miracolous Activist Mothering Artist Association Awards). Die Idee zu den Preisen und Nominierungen ist es besondere aktivistische Projekte, Initiativen, und Akteur*innen sichtbar zu machen und so auch das größere gemeinschaftliche Feld der Bewegungen aufzuzeigen.

Stephanie: Während der Ausstellung haben wir immer wieder Fragebogen ausgegeben und Besucher*innen gebeten, Nominierungen beizusteuern. Die drei MAMAAA Pokale (eco care, structural care und feminist care) sind ernstgemeinte Auszeichnungen, die jedoch auch gleichzeitig in ihrer überschwänglichen, kindlichen Form mit  Selbstironie kritisieren, dass dafür überhaupt ein Preis vergeben werden muss.

Stephanie Winter “Gestures of Care” (film still), 2021. Mit Nora Wahl, Josefine-Marie-Christine Sternbauer, Louise Deiniger, Imani Rameses, Nada Darwish, Hannah Schranz, Yusimi Moya Rodriguez (v.l.n.r).
Stephanie Winter “Gestures of Care” (film still), 2021. Mit Nora Wahl, Josefine-Marie-Christine Sternbauer, Louise Deiniger, Imani Rameses, Nada Darwish, Hannah Schranz, Yusimi Moya Rodriguez (v.l.n.r).

Wie soll es mit dem Projekt in der nächsten Zeit weiter gehen?
Stephanie: Sehr wichtig ist es uns, nach dieser Startphase im Motherboard die entstandenen Vernetzungen zu verstärken und mit unterschiedlichen Impulsen, Workshopformaten und Lectures an neuen Orten anzudocken. In weiterer Sicht wollen wir auch ein Buch herausgeben, in dem Forschungen und künstlerische Arbeiten zusammenfließen. Aber bis dahin gibt es noch einiges zu erkunden.

Dem Ökofeminismus wird ja manchmal Essentialismus vorgeworfen – habt ihr euch mit solchen Fragestellungen auch auseinandergesetzt?
Nora: Eine zentrale Kritik am Ökofeminismus ist ja, dass er Dichotomes Denken von Weiblichkeit und Männlichkeit reproduziert und eine Identifikation von Frauen mit der Natur (und damit auch gesellschaftlich zugeschriebene Genderkonstruktionen) festlegt oder weiterschreibt. Wir definieren Mutterschaft losgelöst von einem biologischen Körper und denken daher auch einen neuen, queeren Ökofeminismus. 

Stephanie: Die Veränderung zeigt sich ja auch in der Sprache. Wir sind sehr stark an Umbenennungen und Neubenennungen und deren Wirkung interessiert. Gleichzeitig denken wir aber auch, dass es wichtige Perspektiven im Ökofeminismus gibt, die auf gelebte Realitäten bezogen sind. Wir leben in einer Patriarchen, kapitalistischen Gesellschaft in der marginalisierte Menschen (unter ihnen auch nach wie vor Frauen) unterdrückt und ausgebeutet werden. RADICAL CARE setzt einen Gegenimpuls zur Figur des westlichen weißen Eroberers. Dabei ist unser Plädoyer, diesem weißen Eroberer keine Figur gegenüberstellen, sondern eben eine Strategie, die in ihrer Diversität ihre Wirkung entfaltet.

RADICAL CARE
Motherhood as political strategy and care from a new ecofeminist perspective
05.11 – 30.01.2021

Visits by appointment: motherboard.artspace@gmail.com

Stephanie Winter – www.salon-hybrid.com, www.instagram.com/salonhybrid/
Nora Mayr – www.instagram.com/_noramayr/

MOTHERBOARD – www.instagram.com/motherboard2.0/


With visions and impacts by Guadalupe Aldrete, Bernadette Anzengruber, Nada Darwish, Louise Deininger, Deirdre Donoghue, Pauline Doutreluingne, Bettina Eigner, Zuzana Ernst, Elisabeth Falkensteiner, Lisa Martha Janka, Daniela Koweindl, Courtney Kessel, Ernst Lima, Claudia Lomoschitz, Nikola Otto, Imani Rameses, Doris Richter, Julia Riederer, Yusimi Moya Rodriguez, Denise Palmieri, Stefania Pitscheider Soreperra, Elisabeth von Samsonow, Josefin-Marie-Christin Sternbauer, Hannah Schranz, Elisa Stockinger, Nora Wahl, Micha Wille, Marlies Wirth, Anna Witt, Stefanie Wuschitz. A project by Nora Mayr and Stephanie Winter