“Universitätslehrgang
   
Wien Theater

Interview mit Lisa Kerlin

Lisa Kerlin ist Theaterwissenschaftlerin und Dramaturgin. Seit zwei Jahren leitet sie das Volkstheater in den Bezirken. Ihr Weg dorthin führte über eine enge Zusammenarbeit mit Intendant Kay Voges zunächst nach Dortmund, später nach Wien. Und nach einer Phase im Theaterbetrieb, die familienfreundlicheren Strukturen zugewandt ist, kehrte sie zurück in die Dramaturgie. Dort fand Lisa Kerlin im Projekt „Volkstheater in den Bezirken“ neue Herausforderungen.
Lisa Kerlin, Leiterin von V°T//Bezirke im Probenzentrum in der Josefstadt (Tigergasse 13–15)
Lisa Kerlin, Leiterin von V°T//Bezirke im Probenzentrum in der Josefstadt (Tigergasse 13–15)

Das Tourformat des Volkstheaters – V°TBezirke (Volkstheater in den Bezirken) – bespielt seit über 70 Jahren unterschiedlichste Spielstätten der Wiener Gemeinden: in Veranstaltungshallen oder Volkshochschulen – immer inmitten der Grätzl. Anlässlich der aktuellen Produktion Romeo und Julia, sowie des bevorstehenden Endes der Intendanz von Kay Voges und des Bezirke-Formats, wie Lisa Kerlin es etabliert hat, haben wir mit ihr über mobiles Theater, Nähe zum Publikum und Selbstreflexion gesprochen.

Lass mich zum Start direkt fragen: Wie programmiert man denn für so ein besonderes Projekt? 
Es ist ein komplexes Konstrukt: Wir haben 15 Spielstätten in 13 Bezirken und ein sehr traditionsbewusstes Publikum – das uns teils schon seit Jahrzehnten begleitet. 

Man muss sich also überlegen, wie man einerseits die langjährigen Zuschauer:innen mitnimmt und gleichzeitig auch ein neues, jüngeres Publikum anspricht. Das ist natürlich kein neues Thema; das betrifft viele Theater. Bei uns ist die Situation nochmal besonders, weil wir ein sehr feedbackfreudiges Publikum haben – das sich sehr direkt äußert, wenn etwas nicht gefällt. Sei es durch Abo-Kündigungen oder direkt per E-Mail. Zum Glück sagen sie aber auch, wenn es ihnen gefallen hat. 

Du sagst, man muss schauen, was zum Publikum passt. Der andere Aspekt ist aber auch, dass ihr auf ganz unterschiedlichen Bühnen zu Gast seid.
Ja genau, die Bühnen sind wirklich super unterschiedlich: in Größe, im Zuschnitt, im Publikum – eigentlich in allem! Deshalb haben wir am Anfang ein kleines „Dogma“ formuliert, ein paar Grundregeln, um einen gewissen Rahmen abzustecken. Innerhalb dieses Rahmens kann dann ganz viel passieren. 

Zum Beispiel haben wir entschieden, grundsätzlich kein Video zu verwenden, da es technisch oft zu aufwändig ist und auf unseren Bühnen selten gut aussieht. Außerdem versuchen wir bei der Stückauswahl gemeinsam mit den Regieteams, dass es immer eine Verbindung zum Publikum gibt – sei es über Musik, Humor oder andere Elemente. 

In unseren Räumen kann man nicht so tun, als wäre man in einem klassischen Theater. Wenn man die vierte Wand schließt und tut, als wäre das Publikum nicht da, funktioniert das nicht – es wirkt dann schnell wie Laientheater. An diese räumlichen Gegebenheiten haben wir uns angepasst.

Sowohl das Volkstheater als auch das V°TBezirke – Volkstheater in den Bezirken hatten besonders in den letzten Monaten tolle Resonanz. Befruchten sich die Bezirke und die Hauptbühne gegenseitig? 
Um das definitiv beantworten zu können, hätten wir es länger machen müssen. Im Haupthaus hat sich etwas verändert, und das hat auch Auswirkungen auf uns, aber nicht so, dass die Leute jetzt sagen: „Oh, jetzt gehen wir auch in die Bezirke.“ Eher wirkt es über konkrete Stücktitel, die neugierig machen. 

Lisa Kerlin, Leiterin von V°T//Bezirke im Probenzentrum in der Josefstadt (Tigergasse 13–15)
Lisa Kerlin, Leiterin von V°T//Bezirke im Probenzentrum in der Josefstadt (Tigergasse 13–15)

Wenn wir schon einmal bei Romeo und Julia sind: Wie ist es denn dazu gekommen, dass ihr euch genau für dieses Stück entschieden habt? 
Romeo und Julia wird erstaunlich wenig gespielt, obwohl es irgendwie das „Theaterstück schlechthin“ ist. Die Bekanntheit des Stoffes erlaubt uns, mit der Shakespeare-Sprache und der klassischen Inszenierung zu brechen – denn alle wissen, worum’s geht. Kaja Dymnicki und Alexander Pschill werden also das Stück komplett auf den Kopf stellen. Die Fassung, die sie gemacht haben, finde ich fantastisch. Mir gefallen besonders das Tempo und die Freiheit, den Stoff nach eigenen Vorstellungen zu interpretieren, ohne Angst, etwas „falsch“ zu machen.

Was uns sehr geholfen hat, war also, bekannte Titel zu spielen. Denn wir müssen ohnehin oft viel erklären. Wenn man dann Romeo und Julia spielt, wissen die Leute sofort: Das ist Theater. Dann ist schon mal ein Teil des Konzeptes klar.

Wenn sich Romeo und Julia heute in Wien kennenlernen würden, wo wäre das? 
Oh! Einen Moment. In einer klassischen Shakespeare-Übersetzung wäre es wahrscheinlich im ersten Bezirk. Irgendwo von Schloss zu Schloss, über die Straße hinweg. Und bei uns … Ich glaube eher in Simmering. Ein bisschen rau, alteingesessen. Aber mit viel Selbstbewusstsein. Ein Wien für Kenner:innen, nicht für Tourist:innen.

Was wünscht ihr euch von der Premiere?
Ich wünsche mir ein richtiges Finale mit „Wumms“ – dass das Publikum dasitzt und denkt: „What just happened?“, wie bei einer Achterbahnfahrt. Und ich wünsche mir für unser Team, dass wir nach der Premiere sagen können: „Das war richtig gut“ – und wir vielleicht nach der letzten Vorstellung am Praterstern danach wirklich gemeinsam in der Achterbahn sitzen.

Wir haben vorhin viel über Herausforderungen gesprochen – kommt es da auch manchmal zu Frustrationen?
Klar. Wenn man eine Arbeit macht, die einem wichtig ist, die einem etwas bedeutet, kann das oft mit Frustration verbunden sein. Oder noch schlimmer: dazu führen, dass man Dinge persönlich nimmt. Dann wird es nervig, dann wird es unangenehm. 

Ich hatte viele Momente, in denen mir auffiel, dass innere Arbeit notwendig ist. Um etwas nicht persönlich zu nehmen, bei sich selbst zu bleiben oder nicht bitter zu werden, wenn etwas nicht funktioniert. Selbstreflexion ist so hilfreich – selbst, wenn sie nicht immer angenehm ist. 

Toll war, dass wir als Team wirklich gut funktioniert haben und uns gegenseitig auffangen konnten. 

Lisa Kerlin, Leiterin von V°T//Bezirke im Probenzentrum in der Josefstadt (Tigergasse 13–15)
Lisa Kerlin, Leiterin von V°T//Bezirke im Probenzentrum in der Josefstadt (Tigergasse 13–15)

Als Leitung hat man ja auch nochmal eine ganz andere Verantwortung.
Die Haltung der Leitung prägt das ganze Team. Ich glaube, es ist wichtig, einen inneren Kompass zu entwickeln. Der sollte nicht heißen: „Wie laut kann ich auf den Tisch schlagen?“, sondern „Wie klar kann ich bleiben?“. 

Das ist auch etwas, worauf ich nach der Saison zurückblicken will, und noch einmal darüber nachdenken, was ich vielleicht jetzt anders machen würde. Oder auch zu sehen, was gut funktioniert hat. Besonders für uns Frauen ist diese Balance sehr erstrebenswert, damit man sich nicht nur selbstkritisiert, sondern auch auf das Positive schaut.

Hast du weibliche Vorbilder, die dich geprägt haben?
Mechthild Harnischmacher zum Beispiel, mit der ich Petterson und Findus gemacht habe. Sie hat diese besondere Mischung aus totaler Hingabe zur Arbeit und gleichzeitig absoluter Klarheit. Und sie hat keine Angst – sie sagt einfach, was sie denkt. Auch zu den großen Theaterpersönlichkeiten. Oder auch Lucia Bihler. Sie kann Kritik sofort einordnen: Was ist hilfreich, was kann weg? Das finde ich total beeindruckend.

Was wäre für dich anders mit mehr dieser Angstlosigkeit?
Ich glaube, ich hätte manche Konflikte innerlich ruhiger geführt und wäre in manchen Verhandlungen klarer und vielleicht auch entschlossener gewesen – aber eben auch mit mehr Ruhe. Für mich hat Angstfreiheit viel mit Klarheit zu tun. Also zu wissen: Was ist wirklich wichtig? Und was fühlt sich nur dringend an?

Für mich hat Angstfreiheit viel mit Klarheit zu tun.

Gibt es Stücke, die du gern noch gemacht hättest? 
Ja, Heddar Gabler von Henrik Ibsen – mein Lieblingsstück. Und Kunst von Yasmina Reza, das hätte toll hierher gepasst. Auch im Kindertheaterbereich hätte ich gerne weitergeforscht – da steckt noch viel drin. Ich hätte auch gern versucht, mehr Verbindungen und Kooperationen zwischen den großen Häusern Wiens zu schaffen, da diese weitgehend unvernetzt bleiben.

Meine Traumidee: eine Theaterband, bestehend aus Ensemble-Mitgliedern verschiedener Häuser. Jedes künstlerische Betriebsbüro erklärt dich für verrückt, und die Dispos (Anm.: Dienstpläne) wären ein Albtraum. Aber die Leute würden es lieben.

Zu guter Letzt: Wie geht es für dich weiter? Bleibst du in Wien?
Ich bleibe in Wien, auch aus familiären Gründen. Und ich muss auch sagen: Zum ersten Mal fühle ich mich in einer Stadt angekommen, die ich wirklich mag. Außerdem hat man als Deutsche/r im Ausland eine gewisse Distanz zu politischen Themen in beiden Ländern. Das tut meiner mentalen Gesundheit einfach gut.

ROMEO UND JULIA nach William Shakespeare
in Kooperation mit dem Bronski und Grünberg Theater
von Kaja Dymnicki und Alexander Pschill
Besetzung: Julia Edtmeier, Agnes Hausmann, Doris Hindinger, Alexander Jagsch, Stefan Lasko

Regie: Kaja Dymnicki und Alexander Pschill
Bühne und Kostüm: Kaja Dymnicki
Sounddesign: Christian Frank
Dramaturgie: Lisa Kerlin

Premiere: 25. April 2025, 19:30 Uhr
im VZ Brigittenau, Raffaelgasse 11, 20. Bezirk
Bis 26. Mai 2025 auf Tour durch die Wiener Bezirke

Termine, Tickets und weitere Informationen: www.volkstheater.at