“Open
   
Bologna Kunst

Gleichzeitigkeiten at MAST

Zur gleichen Zeit übernehmen Maschinen Arbeiten von Menschen wie demütigende Bedingungen andere Menschen ausbeuten. Dazwischen schwelen langsame Veränderungen, die rasch ins Extreme kippen können oder gestoppt werden. Nach wie vor präsent sind die Versprechungen von einer Zukunft, die bereits stattfindet. Same time, but not the same place.
Farah Al Qasimi, Sorelle - Sisters, 2022
Farah Al Qasimi, Sorelle – Sisters, 2022

Oder um es mit Bruno Latour zu sagen: Im Fortschrittsdenken existierte die Zukunft ohne einen Ort. Heutzutage wird jegliche zeitliche Projektion durch die Tatsache eingeholt, dass man ebenso den Raum definieren muss, in dem wir eine Zukunft haben werden. Das verändert die Situation und die Vorstellungen von Fortschritt, Emanzipation und Hoffnung (1).

Dem siebten internationalen Call der Fondazione MAST in Bologna, folgten 53 Künstlerinnen und Künstler. Die zu vergebenden Produktionsbudgets gingen an fünf von ihnen. Die Positionen, die sich alle mit dem Thema Arbeit, Industrie und deren Veränderungen befasst, könnten unterschiedlicher nicht sein. Die von Kurator Urs Stahel ausgestellten Werke, machen Welten erfahrbar, die sich mit lokalen Begebenheiten befassen, aber global beeinflusst sind.

Hicham Gardaf, Senza titolo (imbuto rosso) - Untitled (Red Funnel), 2022
Hicham Gardaf, Senza titolo (imbuto rosso) – Untitled (Red Funnel), 2022

In Praise of Slowness von Hicham Gardaf ist ein Zeitdokument, aber auch eine Hymne an die Langsamkeit. Berufe, die mit der Schnelllebigkeit dieser Zeit nicht mithalten, verschwinden. In einer siebzehnminütigen Videoarbeit geht einer der wenigen verbliebenen Verkäufer von Bleichmitteln mit leeren Flaschen durch die Vororte von Tanger. Er summt, bleibt stehen, ruft, geht weiter. Sein Rufen ist Werbespot, Lockruf. Er erinnert die Leute daran, dass er mit jener kostbaren Lösung zum Bleichen von Stoffen und Reinigen von Böden unterwegs ist. Es ist noch keine zwanzig Jahre her, dass in Italien Dinge wie Heizkohle, Gemüse aus dem Garten, genauso, mit der ape oder dem Motorino, da porta a porta, verkauft wurden. Schritt für Schritt, von morgens früh bis zur Dämmerung am Abend, beobachten diese Verkäufer in Tanger das kosmopolitische Treiben innerhalb und außerhalb der Mauern einer Realität, die für die Einen ein erstes Orientierungsziel auf dem Weg nach Europa ist. Für die Anderen aber einfach der Ort, in dem sie leben. Einer der thematischen Schwerpunkte der Arbeit ist der Kontrast zwischen dem wohlhabenden Teil der Stadt und der Altstadt. In der Installation füllt die Farbe Gelb, die Farbe der Bleiche, aber auch die Farbe, die in den Fotografien dominiert, den Raum vom Boden her. Das Weiß, mit dem die Wände ungefähr ab Brusthöhe bis zur Decke bemalt ist, suggeriert die Weite eines sich über den Raum erstreckenden Horizont; in ihm die Fragen an die Zukunft. Hicham Gardaf, 1989 in Tanger geboren, ist der Gewinner dieses “ Photography Grant Industry and Work” der Fondazione MAST.


Arbeit kann Mittel zum Zweck sein oder Sinn stiften. Mit der zweiten Auslegung arbeitet Lebohang Kganye, die 1990 in Johannesburg geboren wurde. In Keep the Light Faithfully erzählt sie, Licht und Perspektive einsetzend, das Leben von Leuchtturmwärtern. In einer Art Schattentheater inszeniert die Künstlerin wichtige erzählte Momente mit Silhouetten oder klar lesbaren Figuren, die sie fotografiert, ausgeschnitten und auf Karton appliziert hatte. Inspiriert von der Geschichte der Leuchtturmwärterin Ida Lewis in Lime Rock (Rhode Island, USA), erkundete Kganye für ihre Arbeit zahlreiche Leuchttürme an der südafrikanischen Küste, sprach mit alten Wärtern, hörte sich ihre Geschichten an und wie sie Leuchtturmwärter geworden sind. Das Ergebnis ist eine fotografische und zeichnerische Illustration der mündlich überlieferten Erzählungen.

In dem Projekt Red River Blues (Dearborn) konzentriert sich Farah Al Qasimi auf die große arabische Gemeinde in Dearborn, Michigan, dem Geburtsort von Henry Ford und dem historischen Hauptsitz der Ford Motor Company. Die Stadt lebt zeitgleich in vor allem zwei Kulturen. Arabische und amerikanische Zeichen sind nebeneinander lesbar. Manche Straßenschilder sind inzwischen sowohl mit den arabischen als auch mit den lateinischen Schriftzeichen beschriftet. Ford ließ in seinen Fabriken Menschen aus weit entfernten muslimischen Kulturen einreisen und arbeiten. Er war überzeugt davon, dass sie keinen Alkohol trinken. Er gab ihnen Häuser, in denen sie mit ihren Familien leben konnten. Viele kamen. Al Qasimi, die 1991 in Abu Dhabi geboren wurde, arbeitet mit Collagen und indem auch sie die Dinge nebeneinander lesbar macht, schafft sie eine Mischung aus authentischen Momenten und deren glänzender, fotografierter Dimension auf Postern. Sie wird in Familien eingeladen und nimmt an Festen und Diskussionen teil. 2021 wurde in Dearborn ein muslimischer Bürgermeister gewählt.

Das mehrteilige Projekt von Salvatore Vitale trägt den Titel Death by GPS. Es befasst sich mit den Tagelöhnern und dem Bergbau in der Region Gauteng in Südafrika. Gauteng steht für viele Regionen Afrikas, in der sich der industrielle und technologische Overkill und die scheinbar unumgängliche Ausbeutung von Mensch und Boden aggressiv breitmacht, durchsetzt. Gesucht werden Gold und andere Metalle, Edelsteine. Die Auswirkungen menschlicher, profitorientierter Einwirkung und Verantwortungslosigkeit zeigt sich einmal mehr in diesem Werk des engagierten Künstlers. Die Kluft zwischen den Herrschenden und den Beherrschten wird sichtbar. Die Auftraggeber bleiben unsichtbar. Vitale wird also selber zum Auftraggeber und engagiert für sein Projekt Menschen, die im Bergbau tätig sind. Er beauftragt sie, zu fotografieren. Der 1986 in Palermo geborene Vitale hält sich aber nicht an die Regeln des Marktes und bezahlt seine Mitarbeiter anständig. Die sind erstaunt und dankbar für diese faire Behandlung und leisten dann auch Überstunden für den Erfolg der Operation. In einem kurzen Film setzt der Künstler die Eindrücke zusammen, schneidet sie in schnellen Sequenzen, wobei Fotografien, die reale Ereignisse dokumentieren, und Videomaterial von Sabotageakten, die zu diesem Anlass inszeniert wurden, miteinander verbunden werden. Das Werk lädt zum Nachdenken über die menschgemachte Ausbeutung von Menschen im Spätkapitalismus ein.

Salvatore Vitale, Siamo già dei cyborg - We’re already cyborgs, 2022
Salvatore Vitale, Siamo già dei cyborg – We’re already cyborgs, 2022


Das Werk von Maria Mavropoulou flüstert und atmet. Es klingt, als ob wenige Menschen, die Litaneien wiederholen, über deren Inhalt sie schon gar nicht mehr nachdenken. Aus einer Höhe von rund drei Metern fließen die unverständlichen Worte aus Lautsprechern über die Bilder, die in einer kathedral anmutenden Installation gezeigt werden; wie Kirchenfenster wiederholen sie Farben und Motive. In their own image, in the image of God they created them arbeitet im Sound Piece mit mehreren, verschobenen Layern einer einzigen künstlichen, weiblichen Stimme, die jene Keywords wiederholt, aus welchen DALL-E, eine Text-in-Bild-transformierende AI-Application von OpenAI, die Grundlage für jene acht großen kaleidoskopischen Techno-Totems der Künstlerin geschaffen hatte. Mavropoulou bediente sich also einer Konvertierungssoftware, dank derer eine Art von Bildern entsteht, die die Frage stellt, welche Rolle die künstliche Intelligenz in der Kunst haben wird. Die 1989 in Athen geborene Künstlerin beschäftigt sich in ihrer Recherche immer wieder mit Themen wie Produktion, Arbeit, Religion und dem Verhältnis der schöpferischen Kraft zwischen Maschine und Mensch.

Maria Mavropoulou, Senza titolo 10 - Untitled 10, 2022
Maria Mavropoulou, Senza titolo 10 – Untitled 10, 2022

Die Ausstellung zeigt auch die Werke der Finalistinnen und Finalisten der vorangegangenen Ausgaben und bildet eine Art Weltreise in Bildern, mit der sowohl das zehnjährige Bestehen der Fondazione MAST als auch das fünfzehnjährige Engagement für junge Fotografie gefeiert werden soll.


Fay Arnold ist Agentin und Kritikerin. Sie lebt und arbeitet in italienischer, deutscher und englischer Sprache – asking herself if this is european pidgin now, or just pidgin? fay@agentfay.net

(1) Lacroix, A. Philosoph (2021): Bruno Latour: „Wir müssen eine in der Erdgeschichte einmalige Situation verarbeiten“, https://www.monopol-magazin.de/interview-bruno-latour-philomag-klimakrise