Wien Kunst

Einfühlen in die Risse der Erde

Mit "haunted landscape/s" wendet sich die Künstlerin, Choreografin und Regisseurin Claudia Bosse auf dem Brachland des ehemaligen Flugfeldes der Seestadt Aspern verwundeten Landschaften zu. Unter freiem Himmel und im Licht der untergehenden Sonne spürt sie gemeinsam mit drei Performerinnen und zwei Bewegungschören den Geschichten, Erfahrungen, Zugriffen und Geistern nach, die diese Landschaften heimsuchen.
haunted landscape/s
haunted landscape/s

Zu Beginn von haunted landscape/s: ein Monolog, gesprochen von Claudia Bosse. Eine Ansammlung von Erinnerungen, Wissen, Gedanken, Assoziationen, gesprochen in sorgfältig betonten Silben, Vokalen und Konsonanten. Kontrolliert und präzise drücken sich die Sätze mikrofonverstärkt dem ringsum versammelten Publikum zu. Zwischen den Sprechpausen: Vogelgezwitscher. Eine sich in ihrer Anwesenheit aufdrängende untergehenden Sonne, die sich von Minute zu Minute näher zum Boden absenkt, Gegenlicht in das Premierenpublikum werfend. Die Bewegung scheint passend, auch wenn sie sich trügerisch abbildet, ist es doch die Erde, die sich von der Sonne wegbewegt. Die Aufmerksamkeit wird jedenfalls großteils ihr, der Erde zuteil, während Claudia Bosse spricht von den Flechten auf Boden und Steinen, von den im letzten Jahrhundert gegrabenen Tunneln unter der Erde in Bad Schlema, von den im Boden vergrabenen Muscheln als Überbleibsel der Meere, die sich hier einst befanden. Wie kommt es, dass sich ein Gefühl der Idylle einstellt, während die von Claudia Bosse ausgesprochenen Wörter und Sätze doch kaum von idyllischen Zuständen erzählen? Wieder Vogelgezwitscher. 

haunted landscape/s

Die trügerische Idylle, die verklärte Idylle – ein illusorischer Zustand als (recht junge) Erfindung einer Gesellschaft, die sich ihrer Verbundenheit und Abhängigkeit mit der sie umgebenden Umwelt mehr und mehr zu entziehen versucht, und sich nun mit fortschreitendem Grad sogenannter ‚Zivilisation‘ entscheidet, in sie, die Umwelt, zurückzukehren, um Idylle und Harmonie zu erfahren – solange man die Regeln selbst vorgeben kann. 

Auch eignen sich nicht alle Landschaften zur Idylle. Und wenn sie das nicht tun, werden sie verwendet, dann wird auf sie zugegriffen. Für Bergbau oder für Flugfelder. Davon berichtet auch Claudia Bosse, und doch hat der Monolog eine paradox beruhigende Wirkung. Die Vögel zwitschern immer noch, als die Live-Klänge von Günther Auer einsetzen und sich unter die Vögel mischen – falls sie jemals hier waren. Dann gibt es da noch die drei Performerinnen – Carla Rihl, Anna Biczok und Lena Schattenberg – auf dem Feld verteilt. Sie untersuchen den Boden, tasten ihn ab, vergraben ihre Hände in der Erde oder werfen ihre Körper mit voller Kraft gegen sie, auf sie, während Bosse weiter spricht von Zeiten, Böden, Geistern, Stahlarbeiter*innenstädten, (wieder)vergrabenen und verwundeten Landschaften. 

Was sind die Geister einer verwundeten und heimgesuchten Landschaft? Einer Landschaft, der Gewalt zugefügt wurde, oder einer Landschaft, die sich selbst Gewalt angetan hat? Kennen wir diese Landschaften und deren Geister, oder kennen wir sie nur als abstrakte Konzepte? Oder wollen wir sie nicht kennen, diese Landschaften? Landschaften deren Boden ausgehöhlt wird, um Materialien aus der Tiefe zu tragen. Kolossale Stufen, die in Hügel geschlagen werden (in manchen von ihnen gibt es jetzt auch Theater zu sehen). Landschaften die austrocknen, überfluten, zerbrechen.

haunted landscape/s
haunted landscape/s

Landschaften die vor unserer Nase liegen. Landschaften, die unserem Blick verborgen bleiben hinter Betonböden und Häuserblöcken. Landschaften, die wir zum Baden benutzen oder zum Entspannen oder zum Anbau von Getreide oder zum Abbau von Stoffen. Vielleicht wollen wir sie nicht erkennen, weil zu erkennen, was sie einst waren, und die Spuren dieser Vergangenheit anzuerkennen bedeuten würde, uns einzugestehen, dass es diese Spuren immer gibt, dass sie überall sind, und dass sie unvermeidbare Resultate unserer Zugriffe sind. 

the landscape is is many landscapes they were before. – Claudia Bosse

„The landscape is both evading and present at the same time,“ spricht Claudia Bosse in ihrem Monolog zu Beginn von haunted landscape/s, und weiter: “the landscape is many landscapes they were before.“ Auch hier, auf den Feldern hinter den Seestadt Studios überlagern sich die Orte, wie das Programmheft mitteilt. Ehemaliges Flugfeld (eine Zeit lang das größte Europas), davor napoleonisches Schlachtfeld (Tausende starben hier; Soldaten und Pferde, lernen wir). Sind es diese Körper, nach denen die Performerinnen suchen? Oder ist vielleicht eine von ihnen Demeter, die ihre Tochter sucht oder den Eingang zur Unterwelt, in der sie vor ihr verborgen wird? Und vielleicht sucht auch eine von ihnen nach Steinen im Boden, die wir Ressourcen nennen, und ihre Suche ist weniger einer liebevollen Sorge, sondern einer materiellen Gier geschuldet?

Figur um Figur betritt das Feld, neben den drei Performerinnen und Claudia Bosse agieren in haunted landscape/s nämlich auch zwei Bewegungschöre sowie der indonesische Künstler Irwan Ahmett, und langsam wird klar: es war nicht nur ein Schlachtfeld, damals, zur Zeit Napoleons. Es ist immer noch ein Schlachtfeld, ist wieder ein Schlachtfeld. Es bekämpfen sich Stimmen, Geister. Von Menschen, Mythen, Landschaften. Ein Gewirr und Gemenge, das unentwegt in die nächste Phase überläuft. Das die Aufmerksamkeit gleichzeitig an sich reißt und sich durch die schiere Vielfalt an Ereignissen und Bewegungen doch gleichzeitig entzieht; gleich der Ambivalenz zwischen Sanftheit und Gewalt, den mal explosiven Bewegungen und mal ritualistischen Bewegungen der zwei Bewegungschöre, die, sich einander zuwendend, einen Gegenentwurf zur Intensität der Geschehnisse anbieten. 

So wie die Eindringlichkeit des kanonartigen, ineinander verschwimmenden Weinens und Klagens von Biczok, Rihl und Schattenberg. Klagen, die aus den Tiefen ihrer Körper zu dringen scheinen, und sich in die Ohren fressen, in den eigenen Körper hinein durch die viszerale Kraft des Affektes und den sich wie Druckwellen ausbreitenden Schreien der drei Performerinnen. Oder die Intensität des Monologs nach Heiner Müllers Text „Herakles 2 oder die Hydra“, welcher erzählt von der unerbittlichen Jagd durch den Wald… oder der Jagd auf dem Wald? Herakles, der schon gar nicht mehr sieht, was er jagt, oder wen, nur weiß, dass er es tut, dass er es tun muss. Die Pflichtbewusstheit des Herakles wird hier übernommen, als Lena Schattenberg den Text Wort für Wort nach vorne drängt, eine Sprache, die selbst auch ziellos zu jagen scheint, ohne zu wissen, wieso oder wonach. Der eine oder andere Gedanke an das eigene Jagen drängt sich hartnäckig auf.

Zum letzten Abschnitt der Performance leitet der Performance Künstler Irwan AhmettDer letzte Abschnitt der Performance findet unter der Erde statt, in einem Raum der Seestadt Studios, wohin das Publikum von Performance Künstler Irwan Ahmett gebeten wird, ihm zu folgen. Davor noch bietet er eine Kostprobe millimetergroßen Stücken ‚essbarer‘ Erde an, die, wie erklärt, aus Java kommt. Mit dem süßlichen Geschmack dieser Erde im Mund (sollte man sich dazu hinreißen lassen, diese auch tatsächlich zu kosten), betritt man schließlich den Bühnenraum.

haunted landscape/s

Dort liegt Claudia Bosse inmitten eines eines multimedial-installativen Bühnenbildes still auf dem Boden und wird Stück für Stück von feinem Salz vergraben. Bis sie schließlich aufsteht und einen letzten Monolog hält. Sie spricht von Vulkanen sowie von nicht-westlichen Weisen, über die Natur zu denken und zu sprechen. Fortwährend rieselt das Salz auf ihren Kopf, ihre Haare und ihre Haut. Doch tritt sie nicht heraus unter dem Strahl – nichts muss sich verformen, niemand muss dem anderen weichen in diesem Entwurf (oder gar Vorschlag) fragiler Koexistenz.

Erstaunlich lange bleibt der Geschmack der Erde im Mund, und bietet der haptischen Qualität der Rauminstallation samt rieselndem Salz und großformatigen Videoprojektionen eine sensorische Erdung an. Nach einem Stück, das in seiner Vielfältigkeit und Ambitioniertheit den eigenen Körper oft vergessen lässt beim Beobachten und Sammeln von Eindrücken und Gedanken ein willkommener (wenn vielleicht auch kulinarisch herausfordernder) Anker das Gesehene in den eigenen Körper zu überführen und abzuspeichern. 

haunted landscape/s ist eine mehrteilige Performance-Reihe. Nachdem sie ihren Ausgangspunkt nun mit den drei Performances in der Seestadt gefunden hat, setzt sich die Reihe im Juni im Wald am Kärtner Wörthersee fort und findet ihren vorläufigen Abschluss Ende Oktober auf der Bühne des Tanzquartier Wien. 

theatercombinat – www.theatercombinat.com