Hans-Jürgen Burkard, einer der großen Reportage-Fotografen der Gegenwart, hat eine außergewöhnliche Deutschland-Reise unternommen: eine Reise, bei der ihm deutsche Liedertexte die Vorlage und der Assoziationsstoff für ein fotografisches Porträt deutscher Zustände und Befindlichkeiten waren. Die deutsche Popmusik, kritisch, ätzend, aber auch liebevoll und selbstbewusst: Was verrät sie über das Land, was zeigt sich in ihr? Hans-Jürgen Burkard hat Liedtexte wie Mädchen von Kreuzberg von Prinz Pi, Rotlichtmilieu von Haftbefehl, Eppendorf von Samy Deluxe oder Hinterland von Casper in große Bilder übersetzt: frei, schräg, verstörend, fröhlich, rätselhaft – und in jedem Fall großartig.
35 Jahre lang zunächst für GEO, dann für den Stern überwiegend im Ausland tätig, war es eine Heimkehr für Burkard. Mit einem dicken Stapel ausgedruckter Songtexte auf dem Beifahrersitz „erfuhr“ er im Sinne des Wortes auf Tausenden von Kilometern die Republik. Suchte dabei, inspiriert von der Musik, nach Stimmungen und Situationen, die zu ihr passten. Fand sie zwischen gestrandeten Walen an Dithmarschens Nordseeküste und dem urbayrischen Gäubodenfest in Straubing, umflogen von Alpendohlen am Zugspitzgipfel und zwischen den Hinterlassenschaften der „Rock am Ring“-Besucher.
Momente, die eine Stimmung wiedergeben, eine Situation dokumentieren, ein Gefühl einfangen: Widersprüche und Extreme, Aufschreien oder Verstummen, ein zärtlicher Blick auf eine fremd und zugleich vertraut empfundene Welt.
So, wie Liedermacher und Texter ihre Erzählungen aufbauen, so selektiert und fotografiert Hans-Jürgen Burkard gezielt seine Motive und baut sie mit den Songtexten zusammen. „Ordnend ins Geschehen eingreifen“ nennt er das. Sich die Welt erklären, oder es zumindest versuchen: fragmentarisch, wie sie sich zeigt, keine zusammenhängende, logisch sich fortschreibende Geschichte, ein Mosaik aus Blicken, Sekunden, Ewigkeiten. Nach langen Jahren als Fotograf in Russland kehrt er zurück, fährt mit dem Auto durch Deutschland. Fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn. Er hört Radio, sammelt Hooklines wie andere Postkarten, hört Bilder und sieht Songtitel. Das Rastlose des Herumfahrens, die sinnfreie Abfolge von gesungenen Kurzgeschichten, die aus dem Lautsprecher tönt, all diese Zufälligkeiten ergeben durch Burkards Kombinationen plötzlich Sinn. Sie bilden nichts ab, sie schaffen etwas Neues: Ein Dazwischen, was in der Zwiesprache von Text und Bild entsteht. Als Reporter sucht er nach Wahrheit, als Fotograf weiß er, dass es sie nicht gibt.
Hans-Jürgen Burkard studierte Visuelle Kommunikation. Seit Ende der 1970er Jahre arbeitete er ausschließlich für GEO und wechselte 1989 für den Stern als akkreditierter Fotokorrespondent nach Moskau, wo er in der ehemaligen Sowjetunion viele preisgekrönte Reportagen fotografierte. Sie gelten als herausragende Beispiele des klassischen Fotojournalismus.
Silke Müller studierte Kunstgeschichte und Neuere deutsche Literatur. 2006 übernahm sie beim Stern das Ressort Kultur und Unterhaltung, 2014 wechselte sie als Reporterin ins Hauptstadtbüro. Ihr Interesse für zeitgenössische Fotografie erwächst aus dem Bedürfnis, Gegenwart zu reflektieren und zu beschreiben.
Peter-Matthias Gaede studierte Sozialwissenschaften und an der Henri-Nannen-Journalistenschule. Von 1994 bis 2014 war er Chefredakteur von GEO. Viele GEO-Geschichten hat er gemeinsam mit Hans-Jürgen Burkard erarbeitet. Gaede, unter anderem Gewinner des Egon-Erwin-Kisch-Preises, arbeitet seit 2016 als freier Autor.
Bildband: AN TAGEN WIE DIESEN von Hans-Jürgen Burkard
Mit Texten von Silke Müller und Peter-Matthias Gaede
24 × 30 cm, 224 Seiten, 111 Fotos
Hardcover, Leinen gebunden, „French Fold“-Schutzumschlag
ISBN 978-3-903101-39-5
Erscheinungsdatum: Oktober 2020
Edition Lammerhuber – edition.lammerhuber.at