
Die ovale Galerie des MAAT hat die Form eines Blattes. Passender hätte ein Ausstellungsraum nicht sein können für die Arbeiten von Vivian Suter. Die schweiz-argentinische Künstlerin (geboren 1949) hat sich aufgrund eines markanten Baumes für ihren Wohnort entschieden. Und seitdem malt Panajchel, Guatemala, in ihren Arbeiten mit. „Nichts woran ich jemals als Künstlerin gearbeitet habe, hätte eine Bedeutung ohne diesen Platz, ohne diese Bäume, ohne diese Blätter, ohne meine Hunde. Sie folgen mir, wo immer ich hingehe1“, sagt die Künstlerin.
Auf der Empore des MAAT in Lissabon stehend, schweift der Blick über den Ausstellungsraum. Später wird es schwer sein, sich an ein einzelnes Bild zu erinnern. Die Arbeiten von Vivian Suter überlappen sich, hängen an Holzleisten aufgereiht wie zum Trocknen. Sie fallen auch über kleine Podeste, wie zufällig abgelegt. Immer wieder ergeben sich neue Durchsichten, neue Blicke auf die Malereien. Die Ausstellung gleicht einer Immersion, dem Eintauchen in einen Wald. Auch dort fällt es schwer, einen einzigen Baum, eine einzige Blume zu betrachten. Es geht um einen Gesamteindruck. Disco heißt die Ausstellung. Sie ist nach dem Hund der Künstlerin benannt – nicht nach einem mit dem Tanzen verbrachten Abend. Ihre Hunde, die Natur, Dreck, Sonne, Wind, Blätter, Insekten, ein Pinsel – all das dringt in die Kunst ein. Vivian Suter lässt ihre Malereien in ihrem Garten liegen, für unbestimmte Zeit. Manche Arbeiten sind voller Dreck und Schlamm. Ein Hurrikan habe ihr Atelier geflutet, heißt es in einer Dokumentation dazu2. Zuerst war Vivian Suter verzweifelt, unzählige ihrer Arbeiten schienen verloren. Doch dieses Ereignis führte zur Entscheidung, noch stärker mit der Natur zu arbeiten. Der Kurator der Ausstellung in Lissabon, Sérgio Mah, schreibt dazu: „Es ist eine kollaborative Arbeit, frei von Hierarchie und Vorbedingungen, komplett offen für das Einschreiben der Natur, unvorhergesehene Effekte, mit all seinen sich entwickelnden Formen, Kräften, die zugleich hier ihren Anfang nehmen und hier hausieren.“3

Die Arbeiten auf den Holzleisten hängen aufgereiht auf Stahlgerüsten. Die Rückseite ist sichtbar, manchmal wechselt die Anordnung auch ihre Richtung wie zum Spiel – statt nach vorne blickt das Bild nun nach hinten. Die Malereien verleiten dazu, eine herauszuziehen, um es zu betrachten – denn nicht alles ist sichtbar. „não tocar“, nicht berühren, ist deshalb auf dem Boden zu lesen. Manche Arbeiten sind gegen die Malrichtung aufgehängt, die blaue Farbe rinnt nun nicht nach unten sondern zur Seite weg.
Mehr als 500 Malereien sind in der Oval Gallery im MAAT ausgestellt – 163 davon sind das erste Mal für die Öffentlichkeit zu sehen. Alle Arbeiten haben keine Titel und sind undatiert. Vivian Suter denkt jedoch, dass sie in den vergangenen zehn Jahren entstanden sind.

Die Arbeiten von Vivian Suter haben eine sehr sinnliche Ebene. Die Künstlerin malt auf ungrundiertem Stoffen mit Acryl, Öl, Pigmenten vermischt mit Fischleim, zuerst aufgespannt, dann jedoch wieder frei gegeben. Die Leinwände fransen aus, manche sind sogar eingerissen. Die Stoffe sind unterschiedlich lang. Sie reizen den Spieltrieb, wie Kinder im Wald will die Besucherin immer wieder Neues entdecken. Nur noch einen Moment verweilen, nur noch eine Runde drehen.

Vivian Suter ist 1949 in Buenos Aires, Argentinien, geboren. Ihre Eltern flohen aus Europa. Als sie 12 Jahre alt war, zog ihre Familie nach Basel, Schweiz, wo sie Malerei studierte. 1982 hatte sie ihre erste große Ausstellung in der Kunsthalle Basel. Kurz danach besuchte sie Lateinamerika – im folgenden Jahr wählte sie Panajchel, Guatemala, als ihren Lebensmittelpunkt. Suter stellte etwa im Kunstmuseum Olten, bei der documenta 14 in Kassel und Athen sowie in der Secession in Wien aus. Ihre Arbeiten sind Teil renommierter Kollektionen wie etwa der Tate in London, dem Guggenheim Museum in New York, dem Kunstmuseum in Basel sowie dem Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid.
Ausstellung: Vivian Suter – Disco
MAAT – Museum of Art, Architecture and Technology
30. Oktober 2024 – 17. März 2025
Die Ausstellung reist im Sommer nach Paris, wo sie im Palais de Tokyo ausgestellt wird.
- siehe das Pressestatement zur Ausstellung. ↩︎
- siehe die Dokumentation Vivian’s Garden mit Stefan Benchoam, verfügbar auf youtube über die John. H. Daniels Fakultät für Architektur, Landschaft und Design der Universität von Toronto. ↩︎
- siehe das Essay Weather Station im Katalog zur Ausstellung. Übersetzt durch die Autorin dieses Textes. ↩︎