Am Eröffnungsabend bildete die Performance Rollenszenen Reloaded, eine adaptierte Version der im Eingangsbereich gezeigten Videoarbeit Rollenszenen – Nothing to Say, den Auftakt zur Ausstellung. Gleich zu Beginn werden hier die Besucher*innen in die Position der*des Observierenden einer Verhörsituation, die sich in einem kargen schmucklosen Raum, mit einem weißen Tisch und einem Stuhl in der Ecke abspielt, versetzt. Der Kamerawinkel positioniert den*die Betrachter*in als direktes Gegenüber der Protagonistin in einem weißen Overall, der jegliche gesellschaftliche Zuschreibung oder Individualität verhindert.
Der für Rollenszenen verwendete Originaltext Protokoll von Nick Hauser erlaubt ambivalente Assoziationen, die gleichzeitig Identifikation als auch Distanz mit der Verhörten zulassen. Eine anonyme Erzählerinnenstimme eröffnet einen Monolog, welcher sich zu einer indirekten Handlungsanweisung wandelt und sowohl persönliche und intime als auch allgemeine Fragen stellt, ohne Raum für Antworten zu lassen.
Aus dem Off unterbricht die Stimme der Künstlerin mit einem Megafon die Erzählerin mit Regieanweisungen und direkten Befehlen, an die in eine passive Rolle gedrängte Protagonistin, die nur noch durch Befehl zu Wort kommt und immer wieder aufs Neue degradierende und herablassende Passagen wiederholen muss. „Sie müssen sprechen? Sie müssen endlich etwas sagen!“, fährt die Erzählerinnenstimme fort, ohne ihr Gegenüber zu Wort kommen zu lassen.
Das „Überreichen“ einer Augenbinde verstärkt gleichermaßen den Eindruck der Fremdbestimmung wie auch den blinden Gehorsam der Protagonistin.Erst als der Monolog der Erzählerin von vorne startet, ermächtigt sich die Verhörte selbst. In Rollenszenen – Nothing to Say stellt Krautgasser Fragen zu Pflicht(bewusstsein), Angst, Annahmen, Manipulation und Perspektiven, die unser Verhalten prägen.
Die Perspektive und Annahmen anderer spielen auch eine essenzielle Rolle in der jüngsten Arbeit der Ausstellung: Ich und die Anderen erschien 2024 und ist ein filmisches Exzerpt aus Beziehungs:szenen, dem sechsten Teil des Szene-Zyklus. Darin thematisiert Annja Krautgasser anhand einer Familienaufstellung „die Vielfalt vielschichtiger Beziehungsstrukturen innerhalb eines Familienverbandes – im Allgemeinen“.[1] Die von uns wie auch unserer Angehörigen zugewiesenen Rollen in einem Familiengefüge beeinflussen nicht nur uns selbst, sondern haben auch Auswirkungen auf unser Leben außerhalb dieser Familienbande. In Ich und die Anderen lässt die Künstlerin die Grenzen zwischen inszenierten und gespielten dramaturgischen Szenen mit dem vermeintlichen Blick hinter die Kulissen verschwimmen. Die erste Szene zeigt eine Besprechung, bei der die Schauspieler*innen, die Regisseurin und eine psychosoziale Beraterin das Konzept einer Familienaufstellung und deren szenische Umsetzung diskutieren. Anschließend werden die einzelnen Figuren in einem mit Bodenmarkierungen abgegrenzten Bereich positioniert, bevor sie sich zu bewegen beginnen. Sehr schnell werden durch das Bewegen und Interagieren bzw. auch das Nicht-Interagieren Persönlichkeitsstrukturen und Dynamiken sichtbar. Offen bleibt, ob es sich hier um ein Reenactment einer realen Familienaufstellung oder um künstlerische Fiktion handelt. Anhand der psychsozialen Therapiemethode behandelt Ich und die Anderen nicht nur den unbewussten Einfluss, den Familiensysteme und die eigene Wahrnehmungsposition ausüben, sondern auch die verschiedenen Konstellationen von Machtstrukturen, Selbst- und Fremdbestimmung innerhalb einer Familie, und die transgenerationale Weitergabe, bei der ungelöste Traumata in die nächsten Generationen einer Familie weitergegeben werden. Die Figuren in Ich und die Anderen sind an die performativen Skulpturen basierend auf dem Konzept des Forumtheaters des brasilianischen Theatermachers Augusto Boal angelehnt. Diese spezielle Form des Theaters ermöglicht dem Publikum, nachdem Schauspieler*innen eine Szene vorgetragen haben, in weiteren Durchgängen derselben Szene aktiv einzuwirken und die Handlung zu verändern:
„Von dem Augenblick an, da der[*die] Zuschauer[*in] den[*die] Protagonist[*in] ersetzt hat und seine[*ihre] Lösung des Problems durchzusetzen sucht, triff er[*sie] als Protagonist[*in] auf Widerstand von allen Seiten. Damit soll klargemacht werden, wie schwierig es ist, die Wirklichkeit zu modeln. Es ist ein Spiel Zuschauer[*innen] contra Schauspieler[*innen], Veränderungswille gegen Konformismus oder Konservativismus: die Welt, wie sie ist – die Welt, wie sie sein soll.“[2]
Die Siebdrucke Monolog 01-04mit Zitaten aus dem Film Beziehungs:szenen spiegeln anhand von Textfragmenten nochmal die unterschiedlichen Ebenen von Zugehörigkeit und Abhängigkeit in Familien und Beziehungen wider. Die diagrammartigen Zeichnungen verschiedener Konstellationen einer Familienaufstellung, mit dem Titel Ich und die Anderenauf der gegenüberliegenden Wand, funktionieren wie ein Skript für den Film, bei dem die in der Aufstellung involvierten Personen als Kreise dargestellt werden.
Auch im mittleren Galerieraum befinden sich sogenannte Randarbeiten. Zu dem Film Waldszenen fertigte Krautgasser die beiden Baumfrottagen 816 und 1025 an, die nach ihren Katasternummern benannt wurden.
Der für die Ausstellung gewählte filmische Ausschnitt aus Waldszenen zeigt das Reenactment der Interviewszene aus One plus One/Sympathy for the Devil von Jean-Luc Godard aus dem Jahr 1968 und einem Telefonat im Wald auf das niemand zu antworten scheint oder niemand antworten kann, da die Protagonistin, genannt Alva, von einem sich ihr nähernden Interviewer unterbrochen wird. Es beginnt ein einseitiges Frage-Antwort-Spiel zu systemischen Abhängigkeiten, Politik, Identität, Kultur(politik), Sexualität und Geschlecht, sowie Gesellschaft, mit knappen Ja- oder Nein-Antworten. Das Spiel dauert so lange, bis sich Alva ohne weiteren Kommentar der Situation entzieht. Obwohl 2015 fertiggestellt, sind die Fragen und Antworten dieser Szene noch immer höchst aktuell. Diese vermeintliche Zeitlosigkeit bedrückt, und betont zugleich ihre Dringlichkeit, ohne dabei in ein „Müssen-und-Sollen-Diktum“ zu verfallen.
Mit einem historischen Dokumenten verhandelt Krautgasser virulente Themen der Gegenwart auch im vierten Film der Ausstellung. Canzun de Sontga Margriata, das Lied der Heiligen Margriata in Talszenen: Das verzauberte Tal, ist ein in rätoromanischer Sprache überliefertes Lied aus dem 7. Jahrhundert und somit eines der ältesten literarischen Zeitdokumente. Canzun de Sontga Margriata handelt von der heiligen Margriata, die als Mann verkleidet unter Sennern in einem fruchtbaren Tal lebt. Als ein Hirtenjunge ihre wahre Identität zu entlarven droht, versucht Margriata – eine Diala, ein Naturwesen aus der rätoromanischen Sagenwelt – ihn mit verschiedensten magischen Geschenken zu bestechen. Ihre Bemühungen, den Hirtenjungen vom Verrat abzuhalten, bleiben jedoch vergebens. Schließlich ergreift sie die Flucht aus dem Tal, welches daraufhin verödet.
Margriata verkörpert als Diala die archetypische Figur der wilden, selbstbestimmten, feenartigen Frau, die selbst über ihr Tun und Handeln entscheiden will.[3]
Die heidnische Erzählung der heiligen Margriata versinnbildlicht die Angst vor dem Unbekannten, dem Unvorhersehbaren und der Vergänglichkeit. Ihr Tarnen als Mann ist eine Notwendigkeit, um in einer patriarchalen Gesellschaft Freiheit zu erlangen. Ähnliche Überlieferungen finden sich in zahlreichen Kulturen und Epochen und ihre kulturelle und historische Relevanz liegt im Aufwerfen von Fragen zu Geschlechterrollen, Selbstbestimmung und Identität.
Begleitet wird der Film von vier Ansichten eines Steins, der selbst auch als Requisite in der Ausstellung vorgefunden wird, sowie das weiße, futuristisch anmutende Kostüm der heiligen Margriata.
Auch die räumliche Inszenierung greift das Konzept des Widerstandes, das die vier Filme teilen, auf. Diese werden auf einem Display aus unbehandelten MDF-Platten präsentiert, deren geneigte und schiefe Position den White Cube herausfordern. Indem sie die räumlichen Vorgaben der Galerie aufbrechen, werden sie selbst zu einem widerständigen Moment im Raum.
In Szenen-Zyklus legt Filmemacherin und Künstlerin Annja Krautgasser die Vielschichtigkeit sozialer und gesellschaftlicher Abhängigkeiten und Machtkonstrukten auf individueller und kollektiver Ebene offen und zeigt dadurch subtile Formen des Widerstands in einer von Umbrüchen geprägten Gesellschaft auf.
Fangen wir jetzt an? … Wir haben nicht mehr viel Zeit. Gut.
Das Zitat, das sich nicht nur im Sujet und in Annja Krautgartners Arbeit Rollenszenen – Nothing to Say wiederfindet, steht stellvertretend für das Bestreben des diesjährigen gleichnamigen Jahresthemas The Resistance of Nothingness der Künstler*innen Vereinigung Tirol, für das die Ausstellung eigens kuratiert wurde. Ein Jahr lang präsentiert die Vereinigung Ausstellungskonzepte, die sich der Komplexität unserer Gegenwart annehmen und Verweigerung als Rückzug aus bestehenden Systemen, die sich sowohl für die Gesellschaft als auch für die Umwelt als toxisch erwiesen haben. Das Zitat wird zum Sinnbild für die vielen Krisen unserer Gegenwart: Ob angesichts der drohenden Klimakatastrophe, Femizide, Krieg, …. Gewalt, Unterdrückung und erstarkendem Rechtspopulismus … „wir haben nicht mehr viel Zeit“.
Ausstellung: Annja Krautgasser – The Resistance of Nothingness kuratiert von Bettina Siegele
Dauer der Ausstellung: 05.09.2024 – 09.11.2024
Adresse und Kontakt:
Künstler:innen Vereinigung Tirol*
Neue Galerie
Rennweg 1, Großes Tor, Hofburg, 6020 Innsbruck
www.kuveti.at
Annja Krautgasser (geb. 1971 in Hall in Tirol) lebt und arbeitet in Wien. Studium der Architektur und Studium der Visuellen Mediengestaltung/Neue Medien. Ihre künstlerischen Arbeiten sind geprägt von der Verbindung von Video, Film, Tanz und Körper sowie sozialer Intervention. www.annjakrautgasser.net
[1] Annja Krautgasser, Szenen-Zyklus (Wien: abo verlag, 2024), 83.
[2] Augusto Boal, Theater der Unterdrückten, 8. Auflage (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2021), 84.
[3] Barbara Horvath, „Talszenen: Das Verzauberte Tal“, in Szenen-Zyklus, hg. von Annja Krautgasser (Wien: abo verlag, 2024), 70.