Langes, silbergraues Haar fällt ihr über den Rücken. Sie sitzt dem Publikum abgewandt auf einem Podest, ihr harter Schatten fällt auf die Wand. In der Hand der Figur liegt ein Brief, unterzeichnet von Klara, die sich nach ihrer geliebten Freundin Rose verzehrt und ihrem jugendlichen Leid in der kurzen Textpassage Ausdruck verleiht. Die hölzerne Puppe mit dem porzellanweißen Gesicht und den roten Bausebäckchen wirkt in ihre Trauer versunken, ihre Stille und Beweglosigkeit untermalen das Leid noch weiter.
Gisèle Viennes Einzelausstellung „This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play“ im Haus am Waldsee, Berlin, ist eine performative Inszenierung, in der die Grenzen zwischen Besucherin, Zuschauerin und Darstellerin verschwimmen. Die ausgeklügelten Blickachsen erinnern an ein Gruselkabinett, in dem hinter jeder Ecke das Unheimliche wartet. So schweift der Blick zur nächsten Szenerie: Zwei Jugendliche liegen gemeinsam im Bett, um sie herum sitzen Teenagerfiguren in Gedanken vertieft, unter dem Bett versteckt sich eine weitere anthropomorphe Figur. Der Blick in das unaufgeräumte Kinderzimmer hat voyeuristische Züge. Hierbei ist klar definiert, wo sich die Blicke des Publikums mit denen der Püppchen kreuzen. Unklar bleibt, wer wen beobachtet.
Ein steifer Holzkörper liegt auf dem Boden, seine Bruchstücke wirken in ihrer Anordnung und Reglosigkeit wie in Totenstarre; der Blick ist leer, abwesend. Nur die roten Wangen verweisen auf die vermeintliche Lebendigkeit der Figur. Der choreografierte Blick ruht auf dem Schauplatz, bevor er auf das Nebeneinander der auf dem Boden aufliegenden Vitrinen gelenkt wird. Im ersten Teil der Ausstellung wird das tote Objekt Puppe durch die Inszenierung belebt. Ganz im Sinne Pygmalions in Ovids Metamorphosen oder Nathanaels in E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ wird das Tote lebendig und die Schöpfung erscheint beseelt. Im weiteren Ausstellungsverlauf eröffnet die Aneinanderreihung der Puppen andere Assoziationsräume; erinnert an die Reihung in einem Leichenhaus oder Lazarett. Die gläsernen Displays verstärken die museale Objektifizierung der Dargestellten und erinnern zeitgleich an die verschweißten Plastikboxen, in denen stereotype, serielle Puppentypen – von der Prima Ballerina bis zum Punk – erworben werden können. Gleichzeitig evozieren die Displays Bilder von gläsernen Särgen, wie sie von Schneewittchen oder der Monarchin Margarethe II. von Dänemark genutzt werden. Erstere wurde aufgrund ihrer das Leben überdauernden Schönheit in Glas gebettet, während Zweitere Zeit ihres Ablebens nur als Silhouette in dem bereits gefertigten Kenotaph erkennbar sein wird. Im Ausstellungsraum wird die Glaswand zur Grenze zwischen der Beobachterin und einem unbeweglichen, schweigenden Körper, dem der Objektstatus inhärent ist.
Besonders durch die surrealistische Ergründung von Subjektvorstellungen und Machtstrukturen erlangte das Spiel mit den Puppen im Kontext der bildenden Künste an Bedeutung. Viennes Puppen entziehen sich einem männlich geprägten Narrativ der Kunstgeschichte, wie es beispielsweise von Hans Bellmer mit seinen fragmentarischen, oft erotischen und immer passiv verfügbaren Puppenskulpturen propagiert wurde. Auch Oskar Kokoschka bediente sich des Puppenbaus, als er die ehemalige Geliebte Alma Mahler lebensgroß nachbauen ließ. Die Ersatzgeliebte entsprach jedoch nicht Kokoschkas Vorstellungen, weshalb er der Doppelgängerin kurzerhand im Rausch den Kopf abhackte – der symbolische Femizid als Höhepunkt einer grotesken Beziehung.
Doch Viennes Puppenspiel bezieht sich nicht exklusiv auf den misogynen Blick mit seiner Erwartungshaltung an weiblich gelesene Körper, im Mittelpunkt steht viel mehr die Adoleszenz im Spannungsfeld von gesellschaftspolitischen Einflüssen. Die kreidebleichen Puppen werden nicht ausschließlich als weiblich gelesen, doch was sie gemein haben, ist ihre Perzeption als fremdbestimmt. Sie sind Austragungsort für Machtkämpfe zwischen gegenkultureller Subversivität und hegemonialer Normativität. Dieser gewaltvolle Kampfakt hinterlässt Narben wie vereinzelte Blutreste auf Nylonstrümpfen oder violett schimmernde Blutergüsse. Doch die stillen Spuren der Gewalt blicken vor allem aus den toten Augen der Darsteller:innen, die sich des Verlusts ihrer Subjektposition bewusst sind. Mit ihnen begraben liegen eine naive Leichtigkeit, ein kindlicher Blick und die Hoffnung auf Selbstbestimmung in einer „Gesellschaft der unterdrückten Gewalt“.1
Die Ausstellung der französisch-österreichischen Künstlerin, Choreografin und Regisseurin besticht durch ihre uneindeutige Eindeutigkeit. Die Inszenierung wird zum Spiegel einer Gesellschaft, die sich selbst zunehmend als fremdbestimmt erscheint, und erzählt Geschichten über das Verhältnis von Macht, Gewalt und Identität.
Ausstellung: Gisèle Vienne – This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play
Dauer der Ausstellung: 12.09.2024 – 12.01.2025
Adresse und Kontakt:
Haus am Waldsee
Argentinische Allee 30, 14163 Berlin
www.hausamwaldsee.de
Die Ausstellung This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play ist noch bis zum 12.01.2025 im Haus am Waldsee in Berlin von Dienstag bis Sonntag zwischen 11 und 18 Uhr zu sehen.
Im Georg Kolbe Museum in Berlin treten in der Ausstellung Ich weiß, daß ich mich verdoppeln kann – Gisèle Vienne und die Puppen der Avantgarde (13.09.2024 – 09.03.2025) Viennes Arbeiten in einen Dialog mit Künstlerinnen der europäischen Avantgarde, die sich des Puppenmediums bedienen. Die Berliner Sophiensäle zeigen im November Viennes Performance Crowd.
Viktoria Weber lebt als Kuratorin, Kunstkritikerin und Kulturwissenschaftlerin in Berlin. Ihre Praxis kreist um Themen der (Für)Sorge, Heilung, Körperpolitiken und Erinnerungskulturen. Aktuell unterstützt sie den Kunstraum Kreuzberg/Bethanien und die Galerie im Turm in Berlin und schreibt für diverse Kunst- und Kulturplattformen.
- Elsa Dorlin. Die Farbe der Angst. Verfasst für eine Ausstellung von Gisèle Vienne im Museé d’Art Moderne in Paris im Jahr 2021. ↩︎