Realitäten, die in beiden Landschaften stark aufeinander prallen. Mit Zeichnungen, Raum- und Toninstallationen sowie digitalen Performances geht Raditsch dem Ursprung konstruierter, idealisierter Vorstellungen beider Regionen nach und setzt ihnen traditionelle Erzählungen und Legenden als fruchtbare Irritation entgegen. Raditschs Verweben unterschiedlicher Kulturwelten ist an den subversiven Geist der Beat Generation angelehnt und möchte einen Diskurs über die komplexe Beziehung zwischen Mensch und Natur fördern.
Florian Raditsch reflektiert über die Schwelle zwischen Vergangenheit und Modernität, die sich in den 1920er-Jahren in Architektur, Design und Kunst auftut. Dieser inszenierende Umgang mit der Landschaft sowie den traditionellen Lebensweisen für den aufblühenden Tourismus wirkt bis heute nach. Die werbewirksame Darstellung von Natur und Tradition, die sich im alpinen Raum etabliert hat, bringt der Künstler mit der zentralkalifornischen Region nahe dem Yosemite Nationalpark in Verbindung, wo er aufgewachsen ist. Dabei entdeckt er Parallelen zwischen den Arbeiten von österreichischen Gestaltern und Architekten wie Clemens Holzmeisters Hotel Drei Zinnen in Sexten, Südtirol (1929) und kalifornischen Bauwerken des sogenannten National Park Service Rustic Baustils, wie das Ahwahnee Hotel (1927) von Gilbert Stanley Underwood. Die Priorität dieser Baukonzepte war die Beziehung zur ursprünglichen Kultur- und Naturlandschaft zur Nutzung für Freizeit und Erholung.
Die architektonischen Entwürfe und insbesondere die Auswahl der Formen, Materialien und Farben erheben einen Anspruch auf Modernität und suchen zugleich einen Anschluss zur Tradition. Dabei wird das vermeintlich Traditionelle aus heutiger Sicht durch eine überspitzte „heimatliche“, „primitive“ bzw. rustikale Formensprache (re-)konstruiert. Raditschs Beschäftigung mit der Innenarchitektur dieser Hoteleinrichtungen mit ihrem damals zeitgemäßen Blick auf traditionelle Formen bestimmt die Farbtöne (grün, rot, blau) und die umfassenden Gestaltungen der Wände in der Ausstellung. Dadurch werden die Räume des Volkskunstmuseums und insbesondere die historischen hölzernen Stuben, die in den 1920er-Jahren gemäß der damaligen musealen Intention in das neue Museumsgebäude eingebaut wurden, neu- und rück-inszeniert.
Holz, Feuer und Tanz: Zerstörung und Erneuerung. Das Material Holz ist ein Leitmotiv der Ausstellung. Sowohl in den USA als auch in den Alpen ist es Bindeglied zwischen Kultur- und Naturlandschaft. Holz ist extrem langlebig, aber auch sehr empfindlich, wie die aktuelle Gefährdung der Naturwälder durch menschliche Intervention beweist. Ähnlich ambivalent verhält sich das Element Feuer: Es ist notwendige Wärmequelle, aber auch potenzielle Gefahr. Aus einem der großen, dem Künstler aus seiner Kindheit und Jugendzeit sehr präsenten Waldbrände in Kalifornien – genauer aus dem Creek Fire vom September 2020 – kommen die verkohlten Baumrinden, aus denen er Masken für die Ausstellung entwickelt. Die Innenseite der Baumrinde bzw. der Masken ist erstaunlicherweise noch intakt. Mit einer dieser Masken tanzt die Künstlerin Magali Moreau in der Ausstellung zu Kompositionen von Florian Raditsch. Die erstaunlich wirklichkeitsnahe digitale Performance aus funkelnden Tanzbewegungen und Trommeln zündet neue Projektionen auf die ansonsten menschenleeren Stuben an. Florian Raditsch deutet damit auf eine weniger bekannte positive Nebenwirkung von Feuer hin, die möglich ist, solange dieses im Einklang mit natürlichen Prozessen bewusst und gezielt eingesetzt wird. Im Gegensatz zu den katastrophalen Feuern, die nachhaltige Schäden für die Umwelt bedeuten, haben kleine, von Menschen gestiftete Waldbrände eine eigene Tradition in den USA, die auf die Erhaltung der Landschaft abzielt. Die indigenen Völker Kaliforniens stiften traditionell und im Rahmen von spezifischen Ritualen in der Landschaft Brände, weil sie ihre ökologischen Effekte kennen. Zerstörung passiert im Einklang mit Wiedergeburt, etwa wie bei den Sequoia-Bäumen (Mammutbäume), deren Zapfen sich nach starker Hitze öffnen können und deren Samen nach einem Brand im von anderen Pflanzen befreiten Boden besser keimen können.
Diskurs über das Ursprüngliche. Bräuche dieser Art bezeugen eine Beziehung Mensch-Landschaft, die entgegen der Ausbeutung der Natur von einem tieferen Verständnis für ein nachhaltiges Zusammenleben geprägt ist. Um dieses vorteilhafte Zusammenspiel nachzuspüren, holt Florian Raditsch Erzählungen, Lieder oder Märchen aus beiden Kulturregionen in die Ausstellung. Diese sind einerseits im Raum zu hören, andererseits werden sie von Florian Raditsch in großformatigen Zeichnungen interpretiert. Diese Arbeiten entstehen in monatelanger akribischer Arbeit mit Kohlestiften, also ebenfalls aus verbranntem Holz. Im größten Raum der Ausstellung, dem Stubenforum, werden sie Teil einer raumübergreifenden Installation, welche eine Umdeutung der Stuben und eine Reflexion über den Begriff des „Ursprünglichen“ oder „Authentischen“ erweckt. Der Künstler entdeckt in Dimension und Architektur des Stubenforums erstaunliche Ähnlichkeiten mit den traditionellen Langhäusern der Ureinwohner*innen Nordamerikas, die dort als Versammlungsorte bzw. Wohnhäuser für mehrere Familien dienen. Mit seiner Installation schafft es Florian Raditsch diese Analogie zu überspitzen. Dadurch können auch die Stuben, die auf dem ersten Blick als unantastbare, private Zeitkapseln wirken, auch in ihrer Funktion als Treffpunkt und Gesprächsraum für ein fließendes Verhältnis zu Tradition ausgelotet werden.
Nachhaltige Narrative. Die unterschiedlichen Elemente der Ausstellung unterstreichen die Wichtigkeit von Zerstörung und Erneuerung nicht nur für biologische, sondern auch für kulturelle und politische Prozesse. Jede kulturelle, politische oder wirtschaftlich bedingte Darstellung, d.h. auch Inszenierung von Kultur- und Naturlandschaft, ist als bestimmtes Produkt eines Zeitgeistes zu erkennen. Die Darstellung Tirols als traditionsverbundenes Land ist beispielsweise ein Produkt der vergangenen zwei Jahrhunderte. Die politische Relevanz dieser einseitigen Darstellung wurde spätestens durch deren Stereotypisierung und Aneignung durch den Nationalsozialismus deutlich. Auch die Inszenierung der zentralkalifornischen Gebiete als wild und unberührt ist eine selektive Darstellungsweise, die mit einer Sehnsucht nach dem Ursprünglichen gekoppelt ist, die die eigentliche aktive Pflege und Veränderung dieser Landschaft durch deren Einwohnerinnen außer Acht lässt. Neue Darstellungen entstehen aus einem fließenden Prozess, in dem Elemente der alten Sichtweisen in Frage gestellt und gezielt zerstört werden, um neue Vorstellungen zu generieren. Jenseits ihrer kulturwissenschaftlichen Bedeutung haben diese Vorstellungen, die heute auch Narrative genannt werden können, eine fundamentale Bedeutung für die Wahrnehmung und Erhaltung von Kultur- und Naturerbe. Die „heimatlichen“ Anliegen der 1920er-Jahre hatten beispielweise große Konsequenzen für den Aufbau der Sammlungen des Tiroler Volkskunstmuseums und somit für die Erzählungen, die unseren Blick auf Tirol bis heute steuern. Im damaligen wirtschaftlichen Interesse wurde Natur- und Kulturlandschaft als touristisches Produkt inszeniert, bei dem die Verbesserung des Wohlstandes mehr als der Naturschutz im Vordergrund steht. Florian Raditschs Ausstellung ist eine Besinnung auf diese Tatsache und die Einladung an die Besucherinnen, sich über die eigene Verantwortung bezüglich der Konstruktion von Vorstellungen, die zukünftig Prioritäten für die Kultur- und Naturlandschaft definieren, bewusst zu werden.
Über den Künstler. Florian Raditsch (geb. 1987 in Zentralkalifornien) setzt sich mit kulturellen und gesellschaftspolitischen Themen, so auch mit Fragen der Identität auseinander, die speziell an Grenzgebieten entstehen. Seine Wand- und Rauminstallationen, Pastellarbeiten und vor allem großformatige Zeichnungen, die er mit einer einzigarten Technik mit Kohlestiften realisiert, wurden bereits in den USA, Österreich und Deutschland präsentiert. Er studierte Bildende Kunst in New Mexico sowie an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Er lebt und arbeitet in Wien.
Ausstellung: Florian Raditsch – Im Schein von Rauch und Flamme*
Ausstellungsdauer: 10. September 2021 – 23. Januar 2022
* Der Arbeitstitel stammt aus dem 1969 erschienenen Gedicht „Smokey the Bear Sutra“ von Gary Snyder (*1930), in dem die berühmte amerikanische Werbeikone Smokey Bear zur weltlichen Erscheinung einer Gottheit umgedeutet wird, die alle auf die Natur achtenden Menschen beschützt.
Adresse und Kontakt:
Tiroler Volkskunstmuseum, Innsbruck
Universitätsstraße 2, 6020 Innsbruck
www.tiroler-landesmuseen.at