Herzlich Willkommen, Welle Nr.4 – ab jetzt herrscht Ausgangssperre nach chinesischem Model. Per Eilmaßnahme von zarter Wiener Hand verfasst, aber doch mit effizienter Befehlskette gen Westen durchgereicht, wird die Stadt runtergefahren. Wer hat im Wirtshaus am See das letzte Hüftsteak mit Kroketten bestellt? Ein Kamberkrebs (aus Amerika stammend, selbst ein Invasore im Bodensee) schiebt seinen gepan- zerten Geleekörper gemächlich zum Brengenzer Ufer unfern der Seebühne hoch und starrt mit seinen Glupschaugen aus dem See. Da wo das Wasser in regelmäßigen Wellen an das flache Ufer rollt, kom- men hier und da zappelnde schleimige Fische mit und bringen ihre schwerfälligen Körper in verlässli- che Entfernung einer nächsten Welle. Die Kiemen sind weit geöffnet. In den unterschiedlich geformten Körpern bilden sich Schwimmblasen zurück und machen Platz für frische nagelneue Lungenflügel. Der Herrgott hat für jeden zwei mitgebracht. Und der erste säuglingshafte Atemzug füllt die Lungen mit klarer Nachtluft und drückt über Geschlechtsorgane, Darm und Milz, alles beiseite, sodass sich Bäuche blähen und die kleinen Fischherzen schneller schlagen. Das kickt bei dem ein oder anderen ziemlich hart rein. Die Pupillen weiten sich. Die Fische hyperventilieren. Wie auf ein Kommando machen sich alle auf in Richtung Sunset Bar.
Man kann über Hugo von Montfort sagen was man will, aber Laute spielen kann er. Gerade lässt er den letzten gezupften Ton ausklingen, als er ein Zwicken im Zeh spürt. Ein Zander nagt an seinem Strumpf. Und dann hebt Hugo seinen Kopf und vor ihm ergießt sich eine Masse an Fischen, als hätten die Kutter der Welt ihre Netze vor ihm entleert. Sie umkreisen den Lautenspieler und wippen mit den Köpfen zu seinem Spiel. Die Schuppen klackern im Takt. Langsam, ganz langsam, um auf keinen Fisch zu treten, setzt er einen Fuß vor den anderen. Die Masse bildet eine Gasse, die er geehrt auf Zehenspitzen en- tlang tippelt. Die Fische folgen Hugo, der nun zügig in Richtung Innenstadt läuft. Die Fenster öffnen sich und verwirrte Köpfe strecken sich aus den Fachwerken in die kalte Nachtluft. Ein kurzer Klick auf Pause genügt, um sich dem Gassenentertainment zu widmen. Ein verspulter Rattenfänger von Hameln.
In der Ausstellung gibt es nichts zu sehen. Nur die geladenen Spezialgäste drapieren sich vor den leer- en Betonwänden und nippen spröde an ihrem Vernissagensekt. Bei 1,50m Abstand kommt auf kaum Stimmung auf. Der Direktor hält noch eine zackige Rede über die Verantwortung von Kunst in Zeiten wie diesen, als unten die Eingangstür aufgebrochen wird und sich Fischschwärme ins Foyer ergießen. Flirrende Lautenmusik ist das letzte was man hört, bevor sich die Eindringlinge über die Gäste hermachen. Wer eine Kultur unterjochen will, beginnt mit ihren Artefakten.
Montfort rüttelt die Flunder im Sand zurecht. Er hat ein Gesicht mitgebracht. Es ist sauber in ein- en durchsichtigen Plastikzipper gepackt. Als die Flunder den durchsichtigen Beutel erblickt, öffnet sich ihr Maul ganz weit vor Erregung. Ihre Glupschaugen fixieren Hugos Hände, die am Zippverschluss nesteln. Als er das Gesicht von dem Beutel befreit hat, legt er es mittig auf den Rücken der Flunder. Der Körper hebt und senkt sich in dem nunmehr schnappenden Atemrhythmus. Hugo streichelt dem Fisch beruhigend über den Kiemendeckel. Gleichzeitig kratzt er mit der anderen Hand tief in den Sand hinein, um an die feuchten Schichten zu gelangen. Der Sand von dort ist schön klebrig und eignet sich hervorragend, um das Gesicht mit dem Körper des Fisches zu verbinden. Wie Ton formt Hugo eine Fuge um das Gesicht herum, sodass die Ränder auf dem schuppigen Rücken der Flunder kleben bleiben. Mit dem Zeigefinger umkreist Hugo das Gesicht entlang der verfugten Schnittstelle und schiebt über- schüssigen Sand beiseite. Er säubert den Rücken der Flunder von verbleibenden Sandkörnern während das Gesicht langsam zum Leben erwacht.
Das Gesicht lächelt. Die Augen der Flunder zucken und die des Gesichtes tun es ihr gleich. Es schaut Hugo an. Er streichelt dem Gesicht die Wange. Dann schiebt er die Flunder langsam hinunter zum Ufer bis die Wellen sich unter ihren Bauch kräuseln. Hugo begleitet das neue Paar bis ins hüfthohe Wass- er, dann beugt er sich vor und drückt dem Gesicht zum Abschied einen Kuss auf die Stirn. Die Flunder taucht gemächlich ab. Das Gesicht presst die Lippen zusammen und schließt die Augen. Die beiden verschwinden in der Dunkelheit des Seewassers, während Hugo zum Ufer zurück watet.
Ausstellung: David Schiesser – Invasion der Geschuppten. Landnahme im Lockdown
Dauer der Ausstellung: 04.09.21 – 30.10.21
David Schiesser – www.davidschiesser.com
Adresse und Kontakt:
DWDS, Die Wiedergeburt des Schaufensters Kunst- und Projektraum
Jahnstraße 13 – 15, 6900 Bregenz
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