»Eiserner Vorhang« ist eine von museum in progress (mip.at) konzipierte und in Kooperation mit der Wiener Staatsoper realisierte Ausstellungsreihe, die seit 1998 den eisernen Vorhang in einen Ausstellungsraum zeitgenössischer Kunst verwandelt. Die Großbilder (176 m2) werden mit Magneten auf der Brandschutzwand fixiert.
Text – Venus Lau:
Im Proszenium erscheint ein Gesicht. Es ist „China Tracy“ – der Avatar der Künstlerin Cao Fei, das Spiegelbild ihres Alter Egos. Die digitale Hülle China Tracys gleicht einer Ansammlung visueller Stereotypen einer „Kriegerin“: Der doppelte Haarknoten ist von Chun-Li aus dem Film Street Fighter angeregt, die Rüstung ist eine gepixelte Nachbildung des Maschinenmenschen Maria aus Fritz Langs Metropolis. Dennoch wurde China Tracy nicht erschaffen, um zu kämpfen, und sie ist auch keine „ehrliche“ Nachbildung Cao Feis in ihrem echten Leben. Schließlich wurde sie in Second Life geboren, einer virtuellen Welt ohne fixe Handlungen, choreographierte Aktionen oder Missionen, in der man sich auch nicht der (anpassbaren) Schwerkraft, ja nicht einmal des (virtuellen) Todes sicher sein kann. Als „Einwohnerin“ eines solch virtuellen Reiches bewegt sich China Tracy durch die von Benutzer-Inhalten gesteuerte virtuelle Welt, driftet oder teleportiert sich zwischen virtuellen Städten hin und her. Durch ihre (virtuelle) physische Verbindung mit den Fingern Cao Feis auf der Computertastatur verkörpert sie eine Erfahrung außerhalb herkömmlicher räumlicher Dimensionen. Diese in China Tracy versinnbildlichte Erfahrungswelt hat Cao Fei in ein (mittels Spiel-Engine inszeniertes) Machinima-Video mit dem Titel iMirror überführt, das bei der 52. Biennale von Venedig zum ersten Mal gezeigt wurde. Das Publikum interagierte dort mit China Tracy in einem aufblasbaren Pavillon mit Kuppeldach. Man beäugte sich im relativen Hohlraum zwischen Virtuellem und Tatsächlichem, wie Sterne, die am Rande lokaler Blasen im Universum blinken.
Die Erschaffung von China Tracy läutete auch die Entstehung von RMB City (2009–2011) ein, einer von Cao Fei in Second Life erbauten virtuellen Stadt. Fragmente chinesischer Stadtlandschaften fügen sich collageartig auf einer virtuellen Plattform zusammen. Dabei verbinden sich Versatzstücke einer ungebremsten Urbanisierung des realen Lebens zu einer multiperspektivischen Bildrolle. Der „Volkspalast“ als Kernarchitektur von RMB City gleicht einem Hybrid zwischen der Großen Halle des Volkes und den Wachtürmen am Tor des Himmlischen Friedens in Peking, dessen unterer Teil von einem Wasserpark eingenommen wird. An der Küste der virtuellen Stadt ruht halb im digitalen Meer versunken ein verrostetes „Vogelnest“ (das für die Olympischen Spiele 2008 von Herzog & de Meuron geplante Nationalstadion in Peking); die von Rem Koolhaas entworfene Sendezentrale von China Central Television schwebt am Himmel, dessen digitales Blau an den Film Die Truman Show denken lässt. In RMB City verdichten sich Chinas Sehenswürdigkeiten, Stadträume und gesellschaftliche Realitäten mit ihren Ausnahmen, Ausschlüssen, Unvereinbarkeiten und Widersprüchen. Dennoch wird RMB City, errichtet in teleologischer Distanz, nie zum digitalen utopisch-dystopischen Doppelgänger einer Stadt aus der realen Welt des Landes. Cao Fei erklärt, dass RMB City „weder die Gegenwart zur Gänze wiederherstellt, noch unsere Erinnerung an die Vergangenheit zurückruft. Es ist ein nur zum Teil reflektierender Spiegel; wir sehen, woher wir gekommen sind, entdecken so manche ‚Zusammenhänge‘, die die Grauzone zwischen dem Realen und dem Virtuellen füllen.“ Die Liminalität beziehungsweise der Schwellenzustand von RMB City zwischen Realität und Virtualität liegt zum Teil in der Zeitlichkeit begründet: Die Zeitzone der Stadt ist die Pacific Standard Time, wobei Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge sich wie im echten Leben regelmäßig wiederholen – allerdings alle vier Stunden anstatt alle vierundzwanzig; außerdem ist stets Vollmond. Alles dreht sich um spekulative Realitäten, die sich womöglich gar nicht mit unserem Lebensalltag decken.
RMB City schloss 2011 offiziell die Pforten und ist seither aus Second Life verschwunden. Sie wurde zu einer unsichtbaren Stadt, die mit Bildern und Texten im Internet sowie in Form von Ausstellungskopien in Museen herumspukt. China Tracy ist noch nicht abgetreten und existiert weiter als Chenghuang von RMB City. (Ein Chenghuang ist die Schutzgottheit einer alten chinesischen Stadt, eine Vergöttlichung ihrer Mauern und Gräben.) Sie hält einen Zweiwegspiegel zwischen Wirklichkeit und Virtualität und bezeichnet und verbindet so diese beiden nebeneinander existierenden Welten. Während in unserem wirklichen Leben die „Grauzone“ zwischen dem Virtuellen und dem Tatsächlichen immer größer wird und Konzepte für ein Metaversum entwickelt werden, kann eine RMB City überall entstehen.
Eröffnung. Fotos: Daniel Lichterwaldt Eröffnung. Fotos: Daniel Lichterwaldt Eröffnung. Fotos: Daniel Lichterwaldt Eröffnung. Fotos: Daniel Lichterwaldt
Walter Benjamin beschreibt den Engel der Zeichnung Angelus Novus von Paul Klee als einen, der in die Vergangenheit blickt und der Zukunft, aus der ihm ein himmlischer Sturm entgegenbläst, den Rücken zuwendet. China Tracy ist ein „neuer Engel“, ein Engel unserer Zeit, mit einer ewigen Gegenwart vor Augen, in der Ereignisse gleichzeitig und in Echtzeitkommunikation auftauchen, sich entfalten und wieder in sich zusammenfallen, während man auf das dunkle Loch spekulativer, noch nicht ans Licht gekommener Zukünfte zusteuert, wie sie die mittlerweile längst vergangene RMB City darstellt. Michel Serres bringt in „La Légende des anges“ (Die Legende der Engel, 1993) Engel mit „Nachrichten übermittelnden Netzwerken“ unserer Zeit in Verbindung, in der wir allesamt Nachrichtenüberbringer sind. Serres bemerkte, dass die Engel sich hinter „den unsere Welt ausmachenden elementaren Strömungen und Bewegungen“ verbergen können. China Tracy verbirgt sich hinter einem Bild – ihrem eigenen Bild, erbleicht zu blassem, monochromem Grau. Bilder sind die Hauptelemente unseres Lebens als mit elektronischen Geräten verbundene Cyborgs, durch die Informationen kodiert, dekodiert und umkodiert werden. Jeder und jede von uns könnte China Tracy sein, und RMB City jeder sich zwischen dem Virtuellen und dem Tatsächlichen abzeichnende Zwischenraum. Im Manifest von RMB City begrüßt China Tracy die Besucherinnen und Besucher mit einem Gespräch aus Italo Calvinos „Il castello dei destini incrociati“ (Das Schloss, darin sich Schicksale kreuzen, 1973), dessen Erzählung durch die Bilder auf Tarotkarten vorangetrieben wird. Der zitierte Dialog findet zwischen einem Jüngling statt, der die Stufen zu einer Stadt hinaufgestiegen ist, und einem Engel mit einer Krone auf dem Kopf, den er dort oben trifft: „Ist das deine Stadt?“, fragt der Jüngling, und der Engel antwortet: „Es ist deine.“
Mein digitaler Avatar China Tracy lebt in der virtuellen Welt. Im Opernhaus gleicht das riesige Porträt einer ruhigen Skulptur. China Tracy ist still und mitfühlend, wie eine Buddha-Statue. Sie beobachtet die reale Welt schweigend und blickt vom schweren Bühnenvorhang, ohne Antworten zu geben. (Cao Fei)
Über Cao Fei. In ihren Videos, digitalen Arbeiten, Fotografien und Installationen setzt sich Cao Fei mit den Auswirkungen des Wirtschaftswachstums, der Stadtentwicklung und der rasanten Globalisierung auseinander. Viele Werke der Künstlerin untersuchen die Auswirkungen von Automatisierung, virtuellen Realitäten und der Hyperurbanisierung auf die menschliche Existenz und werfen Fragen zu Erinnerung, Geschichte, Konsumverhalten und gesellschaftlichen Strukturen auf.
Cao Fei (*1978, Guangzhou) präsentierte ihre Werke in zahllosen internationalen Ausstellungen, darunter: Centre Pompidou (Paris), Fondation Louis Vuitton (Paris), Guggenheim Museum (New York), K21 (Düsseldorf), MAXXI (Rom), MoMA PS1 (New York), Mori Art Museum (Tokio), Palais de Tokyo (Paris), Para Site (Hong Kong), Serpentine Galleries (London), UCCA Center for Contemporary Art (Peking) und Wiener Secession. Sie hat an der Aichi Triennale, der Biennale von Venedig, der Biennale von Sydney, der Istanbul Biennale und der Yokohama Triennale teilgenommen und wurde unter anderem mit dem Deutsche Börse Photography Foundation Prize ausgezeichnet. Cao Fei lebt in Peking.
Rückfragen an:
Mag. Maria Wiesinger, Pressebüro Wiener Staatsoper
maria.wiesinger@wiener-staatsoper.at
MMag. Kaspar Mühlemann Hartl
Leiter museum in progress
office@mip.at
Seit 1998 wurden im Rahmen der Ausstellungsserie die »Eisernen Vorhänge« folgender Künstler/innen verwirklicht: Kara Walker (1998/99), Christine und Irene Hohenbüchler (1999/2000), Matthew Barney (2000/01), Richard Hamilton (2001/02), Giulio Paolini (2002/03), Elmgreen & Dragset (Komische Oper Berlin, 2002/03), Thomas Bayrle (2003/04), Tacita Dean (2004/05), Maria Lassnig (2005/06), Rirkrit Tiravanija (2006/07), Jeff Koons (2007/08), Rosemarie Trockel (2008/09), Franz West (2009/10), Cy Twombly (2010/11), Cerith Wyn Evans (2011/12), David Hockney (2012/13), Oswald Oberhuber (2013/14), Joan Jonas (2014/15), Dominique Gonzalez-Foerster (2015/16 und 2019 in der Opéra de Théâtre Metz), Tauba Auerbach (2016/17), John Baldessari (2017/18), Pierre Alechinsky (2018/19), Martha Jungwirth (2019/20), Carrie Mae Weems (2020/21) und Beatriz Milhazes (2021/22). www.mip.at
Die Ausstellungsreihe ist ein Projekt von museum in progress in Kooperation mit der Wiener Staatsoper und der Bundestheater-Holding. Projektpartner: BLUE MOUNTAIN CONTEMPORARY ART (BMCA). Support: ART for ART, Hotel Altstadt, Johann Kattus, Foto Leutner und PRIVAT BANK der Raiffeisenlandesbank Oberösterreich. Medienpartner: Die Furche und Die Presse.
„Blue Mountain Contemporary Art (BMCA) is a collection of contemporary Chinese art. Since its foundation in 2013, the BMCA defines itself as part of China’s dynamic art scene, maintains close contact with its artists and focuses on works that critically engage with their time and surroundings. The aim is not to witness passing trends but to acquire and cultivate unique works with a long-term impact. Since the BMCA Collection moved its headquarters from Beijing to Europe, its focus has been on making its works visible in international projects. The continuous presence of current Chinese contemporary art in an international context is as important as „Capturing the Moment in China“, which has been BMCA’s credo since the beginning. BMCA works on its mission to shift the perception of China’s emerging artists as strong international positions, and no longer as Chinese phenomena, as defined in the years of China’s first generation of contemporary artists. Numerous exhibition projects at various venues in China, Israel and Vienna preceded over the past nine years and form the basis of the BMCA Collection, which also sees itself as a project platform. In addition to exhibitions, artist residencies and collaborations between Chinese and European artists, the realization of exhibition catalogues and artists‘ books is a further focus. With this multi-layered approach to contemporary Chinese art, the BMCA Collection aims to raise awareness of artistic positions and strengthen their perception both in Europe and in China.“ www.bmca.art