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Innsbruck Ausstellung

Hevea Act 6: An Elastic Continuum

Hevea Act 6: An Elastic Continuum (dt.: Hevea Akt 6: Ein elastisches Kontinuum) ist Teil des andauernden künstlerischen Forschungsprojektes An Elastic Continuum: rubber, gender and power (dt.: Ein elastisches Kontinuum: Kautschuk, Geschlecht und Macht)der Künstlerin Bethan Hughes, in dem sie ergründet wie die organische Substanz Kautschuk direkt mit dem Erfolg des Kapitalismus, Imperialismus und der Moderne verknüpft ist und die Verstrickung von Menschen und nicht-menschlichem Leben mit militärischen-industriellen Komplexen.
Ausstellungsansicht, Hevea Act 6: An Elastic Continuum, Bethan Hughes, Kunstpavillon 2024. Foto: WEST. Fotostudio
Ausstellungsansicht, Hevea Act 6: An Elastic Continuum, Bethan Hughes, Kunstpavillon 2024. Foto: WEST. Fotostudio

Im Mittelpunkt des sechsten Aktes der Hevea Serie und somit auch in der Ausstellung im Kunstpavillon, steht die Geschichte des Taraxacum Koksaghyz, besser bekannt als kasachischer oder russischer Löwenzahn aus dem Tian-Shan-Gebirge in Kasachstan.

Vielerorts gilt der Löwenzahn heute als Unkraut oder Anzeichen für übersäuerte Böden, häufig verursacht durch extensive Landwirtschaft. Er findet aber auch Anwendung in der Homöopathie oder sogar als vegane Honig-Alternative; kaum bekannt ist allerdings die politische Rolle, die die gelb blühende Pflanze, die mit Ausnahme der Antarktis, auf der ganzen Erde zu finden ist, sowohl früher als auch heute, einnimmt. Grund dafür ist der aus den Wurzeln gewonnene Kautschuk, ein weitgehend unsichtbares aber unverzichtbares Element moderner Produktionsgüter. Hevea Act 6 widmet sich daher dem Löwenzahn, dem Rohstoff, den dieser liefert, den Orten, an dem er zu finden ist, und den Frauen, die mit dieser Pflanze in Verbindung stehen. Die Ausstellung erzählt eine Geschichte geprägt von der Unschärfe dieser zentralen Figur der Rohstoffpolitik einiger der einflussreichsten und einschneidendsten globalen Machtzentren des letzten Jahrhunderts –  der Sowjetunion, der USA, Nazideutschland sowie der Europäischen Union. Um diese Geschichte zu erzählen besuchte Bethan Hughes die für den Löwenzahn bedeutendsten Orte: Steppen, Felder, Bergtäler, Gewächshäuser, Labore biotechnologischer Institute, Pflanzenzuchtanlagen und Archive in Kasachstan, der Ukraine, Holland, Polen und Deutschland.

Die Geschichte nimmt ihren Ursprung im Central State CinePhotoPhono Archive of Ukraine in Kiew, in dem die Künstlerin auf eine Serie von Fotos aus der Sowjetunion stieß, die anonyme Frauen in einem Feld mit Löwenzähnen zeigen. Es war 1931 als Stalin in seiner Rede anlässlich der ersten Unionskonferenz der Funktionäre der sozialistischen Industrie verkündete, dass es dem Land an keinem Rohstoff außer dem Kautschuk fehlt und er dies zu ändern vorhat[1]. Bis Ende der 1930er Jahre entstand ein Netzwerk aus experimentellen Landwirtschaften und staatlichen Laboren zur Gewinnung des Löwenzahn-Kautschuks durch Sibirien, Usbekistan, Belarus und der Ukraine. Laut Schätzungen konnte die UdSSR bis zu 30% ihres Kautschuk-Bedarfs dadurch decken. Im selben Archiv in der Ukraine fand die Künstlerin auch den Dokumentarfilm Koksaghyz von Hryhorii Lipshyts aus dem Jahr 1949. Untermalen von einer für Propagandafilme für die UdSSR typischen Orchestermusik, schildert der Film äußerst detailreich das Löwenzahn-Kautschuk-Projekt und dessen Bedeutung für den Erfolg der Nation und zeigt hierfür Bäuerinnen bei der Arbeit auf dem Löwenzahnfeld.

Wissend um die Löwenzahn-Kautschuk-Gewinnung der Sowjetunion, wuchs in den USA währenddessen die Angst vor einem Kautschuk-Notstand. Das daraus resultierende „Emergency Rubber Project“ (dt. „Notfall Kautschuk Projekt“) führte zu einem Verbund von Agrarwissenschaften und Kriegsmaschinerie mit dem Ziel, einen heimischen Kautschukanbau zu etablieren und zu industrialisieren. Sogar Automobilpionier Henry Ford ließ Angestellte mit einem tragbaren Staubsauger die Samen des Löwenzahns sammeln.

Ausstellungsansicht, Hevea Act 6: An Elastic Continuum, Bethan Hughes, Kunstpavillon 2024. Foto: WEST. Fotostudio
Ausstellungsansicht, Hevea Act 6: An Elastic Continuum, Bethan Hughes, Kunstpavillon 2024. Foto: WEST. Fotostudio

Als 1941 Nazideutschland in die Sowjetunion einfiel und dort den großflächigen Kautschukanbau entdeckte, sahen auch die Nazis darin die Lösung für ihre politische und ökonomische Isolation und der damit verbundenen Rohstoffknappheit. Heinrich Himmler wurde zum Sonderbeauftragten in allen Fragen des Pflanzenkautschuks ernannt und Auschwitz zu jenem Ort, an dem sich Landwirtschaft, Handel und Kriegsmaschinerie vereinten. Der Botaniker Dr. Joachim Caesar wurde Leiter des Projektes, für das Samen, Fachliteratur und Expert*innen in das Dorf Rajsko nahe Auschwitz, welches für das Unterfangen und den benötigten Gewächshaus-Komplex geräumt und besetzt wurde, gebracht wurden. Das sogenannte „Gärtnerei- und Pflanzenzucht-Kommando” in Rajsko war ein Außenlager von Auschwitz mit 300 inhaftierten Frauen, von denen viele ausgebildete Botanikerinnen und Wissenschaftlerinnen aus ganz Europa waren. Unter Zwangsarbeit mussten sie nicht nur Lebensmittel für die lokalen SS-Männer und deren Familien produzieren, sondern auch Zierblumen – eine wichtige Einnahmequelle des Reiches – und Löwenzähne. Von diesem Lager und der Arbeit der inhaftierten Frauen sind heute kaum visuelle Beweise erhalten. Die einzigen bekannten Belege und Dokumente sind schriftlich in Form von Briefen, Telegrammen, wissenschaftlichen Dokumenten und Merkblättern erhalten oder wurden mündlich von den Zeitzeuginnen und ehemals inhaftierten Frauen überliefert. Das Leben dieser Frauen in Rajsko drehte sich ganz um den Löwenzahn und dessen Lebenszyklus. Sie säten ihn aus, sortierten und nummerierten die Saat, gossen, bestäubten, ernteten, dokumentierten und sezierten die Pflanzen und während sie dies taten, manipulierten und boykottierten sie mit kleinen aber wirkungsvollen Gesten die Versuche des Projektes „Kommando Pflanzenzucht”. Sie taten dies, indem sie beim Bestäuben der einzelnen Pflanzen den dafür verwendeten Pinsel nicht in den dafür vorgesehenen Alkohol tupften, besonders vielversprechende Samen heimlich im Ofen verbrannten oder indem sie die Nummern der Pflanzen vertauschten und Informationen falsch weitergaben.

Mit dem Ende des Krieges endete auch das „Kommando Pflanzenzucht”, bevor es zu brauchbaren Resultaten führten. Die 1945 noch in Rajsko inhaftierten Frauen wurden auf den Todesmarsch nach Ravensbrück gesendet, den nur die wenigsten überlebten.

Ausstellungsansicht, Hevea Act 6: An Elastic Continuum, Bethan Hughes, Kunstpavillon 2024. Foto: WEST. Fotostudio
Ausstellungsansicht, Hevea Act 6: An Elastic Continuum, Bethan Hughes, Kunstpavillon 2024. Foto: WEST. Fotostudio

Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges öffneten sich die Handelsrouten nach Südostasien allmählich wieder, weshalb der Löwenzahn-Kautschuk auch in Europa und den USA vom dort angebauten Hevea Kautschuk wieder abgelöst wurde und ihn für mehrere Jahrzehnte in Vergessenheit geraten ließ. Bis zum Jahr 2008, als sich EUPEARLS, ein von der EU geförderter, transnationaler Verbund von Forschungseinrichtungen und Industriepartnern gründete. Angesichts steigender Kosten, drohender Engpässe und neuer Einstellungen zum Verbrauch und zur Ressourcengewinnung angesichts der wachsenden Klimakrise bestand das Ziel des Projekts darin, eine alternative Quelle für Naturkautschuk zu entwickeln, die in der EU angebaut werden könnte. Der Verbund besteht aus Universitäten und Forschungsinstituten aus den Niederlanden, Frankreich, Deutschland, Tschechien, Spanien und einer Partnerinstitution in Kasachstan sowie dem niederländischen Reifenhersteller Vredestein und dem US-amerikanischen Unternehmen Yulex Corporation. Darüber hinaus sind heute verschiedene wissenschaftlich-industrielle Koksaghyaz-Projekte von China über Japan bis hin zu den USA in der ganzen Welt bekannt. Was all diese gegenwärtigen Koksaghyz-Forschungsprojekte eint, ist das Narrativ der Nachhaltigkeit: Je weniger Kautschuk aus Südostasien importiert werden muss, umso geringer auch die Rodung von Regenwäldern und Emission durch Import/Export. Angesichts dieser Argumente, gelangte der Löwenzahn und sein Kautschuk in der Forschung zu neuem Interesse und avancierte zu einem Hoffnungsträger der Nachhaltigkeit. Der unleugbare Widerspruch, der all diesen Erzählungen zugrunde liegt, besteht natürlich darin, dass die Pflanze in dieser Form lediglich benötigt wird, um das inhärent fehlerhafte Prinzip des endlosen Wachstums und unseren unhaltbaren Dauerkonsum aufrechtzuerhalten.

Diese wenig bekannte Geschichte des Löwenzahns zeichnet Bethan Hughes in der Einkanal-Videoinstallation im hinteren Galerieraum eindrücklich nach. Mit einer Mischung aus eigenen Aufnahmen, Found Footage, Archivmaterialien und Aktenfotos nimmt sie uns mit auf die Reise des Löwenzahns, bei der auch die Geschichte der involvierten Frauen sichtbar gemacht wird. Die Namen von 71 in Rajsko inhaftierten Frauen werden vorgelesen. Damit würdigt sie den subtilen und leisen Widerstand dieser Frauen im Außenlagers von Auschwitz und die Auswirkungen ihres mutigen Handelns.

Ausstellungsansicht, Hevea Act 6: An Elastic Continuum, Bethan Hughes, Kunstpavillon 2024. Foto: WEST. Fotostudio
Ausstellungsansicht, Hevea Act 6: An Elastic Continuum, Bethan Hughes, Kunstpavillon 2024. Foto: WEST. Fotostudio

Als Teil einer audiovisuellen, immersiven Installation wird der Film von sieben übergroßen noch geschlossenen oder halb geöffneten Löwenzahn-Skulpturen vervollständigt. Diese hybriden mensch-pflanzlichen Wesen verkörpern ihre komplizierte und verwobene Beziehung und Objektifizierung durch die Machenschaften von Politik, Krieg und Kapitalismus. Mit ihnen verleiht die Künstlerin der Pflanze, deren Geschichte von dem ihr entzogenen Rohstoff dominiert wird, einen Körper, der sowohl zart und fragil als auch aggressiv und resilient erscheint. Gemeinsam mit dem Sound Artist Diego Florez kreierte Hughes für die Skulpturen einen Mix aus Stimm-Texturen und Field-Recordings, die während ihrer Recherche für den Film entstanden sind. Die Klangkörper werden von Exciter-Lautsprechern in Vibration versetzt, um so jeder einzelnen Skulptur eine eigene Stimme zu verleihen und gleichzeitig als Gruppe einen mehrstimmigen Chor anzustimmen. Neu hinzugekommen für die Ausstellung im Kunstpavillon sind die alienesken Fliegen der Künstlerin Wie-yi T. Lauw, die den organischen Charakter der Klanginstallation komplementieren.

Hevea Act 6: An Elastic Continuum widmet sich den unterschiedlichen Schicksalen all jener Frauen, deren Geschichte eng mit jener des Löwenzahns verknüpft ist und stellt gleichzeitig die Erzählung der Pflanze selbst in den Fokus. In ihrer raumgreifenden multimedialen Installation illustriert Bethan Hughes ein Narrativ von Rohstoffgewinnung, ökonomischem und politischem Imperialismus, geschlechterbezogenen Arbeit, Repräsentation und Erinnerung, die auch in Form einer Publikation dokumentiert und zum Ende der Ausstellung präsentiert werden wird. 

Ausstellung: Bethan Hughes – Hevea Act 6: An Elastic Continuum
kuratorische Begleitung: Bettina Siegele
Dauer der Ausstellung: 11.10.2024 – 18.01.2025

Adresse und Kontakt:
Künstler:innen Vereinigung Tirol*
Kunstpavillon
Rennweg 8a, 6020 Innsbruck
www.kuveti.at


Bethan Hughes ist eine Künstlerin und Forscherin die Installationen kreiert, die bewegte Bilder, Film, Skulptur und Text verbinden um Narrative politischer, sozialer und technologischer Transformationen zu erkunden. Ihre neuste Arbeit Hevea Act 6 feierte im Dezember 2023 Premiere im Rahmen der Europäischen Media Platform LABoral Centro de Arte y Creación Industrial in Spanien. Bethan Hughes schloss 2020 ihr PhD-Studium im Bereich Kunst- und Kulturgeschichte an der Universität Leeds (GBR) ab. Zahlreiche Ausstellungsbeteiligungen und Einzelausstellungen in ganz Europa u.a. 2023 Summer Interlude, Flutgraben Project Space, Berlin (D); 2022 A Fluid Defence, Künstlerhaus Sootborn, Hamburg (D); Hevea Act 4: Unnatural Ecologies, feldfünf, 2021 Berlin (D); Hevea: frontviews, HAUNT, 2018 Berlin (D); 2017 Softbodies, Project Space, Leeds (GBR). www.bethanhughes.com

[1] Rede Josef Stalins Über die Aufgaben der Wirtschaftler auf der ersten Unionskonferenz der Funktionäre der sozialistischen Industrie am 04.02.1931: www.mlwerke.de/st/wirtscha.htm (abgerufen am 09.10.2024)