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Wien Kunst

Werden, sein, gewesen sein

Seit 25 Jahren leitet die Künstlerin und Regisseurin Claudia Bosse die von ihr gegründete Kompangie theatercombinat, welches sich innerhalb und außerhalb von Österreich mit den Grenzen und Intersektionen von Theater, Performance, Kunst, und Installation beschäftigt.
Claudia Bosse: ORACLE and SACRIFICE in the woods

Zentrale Themen in Claudia Bosse’s Arbeit sind Fragen nach Revolte, des Politischen, Urbanen und Archaischen. Über performative, theatrale und choreografische Praktiken und Interventionen lotet sie Möglichkeiten des Andersdenkens und anders Wahrnehmens aus.

Fast zwei Jahre ist es nun her, dass Claudia Bosse’s erstes Solo, „ORACLE and SACRIFICE oder die Evakuierung der Gegenwart“ im Wiener Tanzquartier uraufgeführt wurde. Nun kehrt „ORACLE and SACRIFICE“ in Koproduktion mit brut-wien mit der Premiere am 8. Mai in einer weiter erforschten Fassung mit einem 22-köpfigen Chor nach Wien – oder genauer gesagt, in die Wiener Prater-Au zurück.

Claudia Bosse: ORACLE and SACRIFICE in the woods

„ORACLE and SACRIFICE in the woods“ ist eine zweiteilige, mehr als dreistündige Bewegung durch den Wiener Prater. Beginnend mit einem aus sechs Teilen bestehenden Hörstück werden die Teilnehmer*innen / Zuseher*innen begleitet und geleitet von Claudia Bosse’s Worte durch Unterholz und Totholz, über Wiesen und Pfade und verschiedenste Zeiten tiefer in den Wiener Prater geführt. Dabei treffen Fiktionalität und Historizität genauso aufeinander wie Künstliches auf Organisches. Eine Einladung, sich selbst als Körper und als Lebewesen mit allen Sinnen aufmerksam neu wahrzunehmen, auf dem Bauch liegend die Wiesenluft einzuatmen oder mit den Händen die Oberfläche eines umgestürzten Baumen zu ertasten und so Teil der Ökologie, aber auch der Performance zu werden. Als Teil der Welt, auf der wir uns bewegen, untrennbar miteinander verbunden und voneinander abhängig, bevölkert von Mikroben, Zellen – kurz Leben. Zentrales Element in diesen Überlegungen bildet auch die Auflösung linearer Zeitkonzeptionen. Denn, darauf weist die Serie „ORACLE AND SACRIFICE“ wiederholt hin – die Gegenwart ist bestimmt durch die gleichzeitige Anwesenheit von Vergangenheit und Zukunft:

Alles, was gewesen ist bildet sich noch immer im Jetzt ab, und die Bestandteile einer kommenden Zukunft sind bereits heute um uns herum und in uns präsent.

Claudia Bosse: ORACLE and SACRIFICE in the woods

Ähnlich lauteten auch die Vorstellungen der antiken Etrusker, deren Leberorakel Ausgangspunkt der Serie „ORACLE and SACRIFICE“ bilden. Durch Lesungen von Organen leiteten sie zukunftsweisende Divinationen ab. Sie sahen die Organe als Mikrokosmen des Lebens (innerhalb eines Körpers), die Hinweise auf makroskopische Vorgänge liefern konnten. Diese antiken Rituale, die schon in „ORACLE and SACRIFICE oder die evakuierung der gegenwart“ von großem Stellenwert waren, sind auch in dieser Setzung nicht abgängig. So hantiert Claudia Bosse als Göttin Artemis mit einer schweren Rinderleber, legt sich diese auf Kopf und Brust, und erscheint so als ein Körper „der Inneres auf seiner Außenseite trägt“. Weitere Performerinnen, gekleidet in Silber, begegnen den Zuschauer*innen auf dieser Erkundung „durch verschiedene Zeiten“. Oft bewegungslos und mit starrem Blick fügen sie sich doch auf fremdartige Weise in die Theaterraum gewordene Praterlandschaft ein – in verfallenen Baumstämmen liegend oder in Erdgruben kniend sind sie nicht auf ersten Blick sichtbar. Man muss sie erst entdecken, den Blick schweifen lassen, die Umgebung wahrnehmen. Ihr teilnahmsloses (oder den ihre Welt erkundenden Zuschauer*innen keine Beachtung schenkendes) Dasein lässt sie wirken, als wären sie womöglich immer schon hier gewesen. Und so ist es auch, in dieser immersiven alternativen Wirklichkeit die Claudia Bosse in „ORACLE and SACRIFICE in the woods“ performativ, sprachlich, und auditiv herstellt: „Bewohner aller Zeiten, sie sind da. Alle sind da die jemals hier waren an diesem Ort. Alle sind da. Jetzt da, zugleich“, erklingt die Stimme der Künstlerin in den Kopfhörern.

Untermalt wird Bosse’s Stimme immer wieder von Naturaufnahmen – Vögeln, Wind, Blätterrascheln – sowie artifiziellen, elektronischen Klängen (Günther Auer), die teilweise gleichzeitig zu hören sind und sich zusätzlich mit den aktuellen Umgebungsgeräuschen zum Zeitpunkt der Aufführung vermischen. Diese auditiven Elemente haben neben einer stimmungsherstellenden auch eine dramaturgische Funktion:

Sie ermöglichen auf einer weiteren Wahrnehmungsebene Prozesse der Auflösung der gängigen dualistischen Metaphysik der westlichen Weltanschauung und stellen stattdessen Zwischengestalten, Zwischenzeiten, Zwischenräume her.

Claudia Bosse: ORACLE and SACRIFICE in the woods

Welche Gedanken lassen sich aus diesen Erlebnissen ableiten? Vor allem geht es um ein neues in Beziehung treten mit sich selbst und einem Neu-verhandeln von Wahrnehmungstraditionen. Was wäre, wenn sich die Menschen selbst aus dem Zentrum ihrer eigenen Weltanschauung nehmen würden? Oder was, wenn vielleicht „die Bäume revoltiert haben werden“? Wie können wir sie erreichen, diese „Gleichheit aller Körper“, die wir so oft anstreben und doch nie wirklich greifen können.

Claudia Bosse suggeriert Veränderungsmöglichkeiten über neue Körpersensationen, über verschwommene Relationen des Innen und Außen, des Einzelnen und Kollektiven.

Claudia Bosse: ORACLE and SACRIFICE in the woods

Mit diesen Gedanken und Erfahrungen im Gepäck findet der erste Teil der Arbeit sein Ende auf der Platanenwiese, wo die Teilnehmerinnen auf vorbereiteten Decken sitzend oder liegend ihren Gedanken nachzugehen eingeladen werden. Langsam betritt nun der Chor den Schauplatz und leitet den zweiten Abschnitt des Werkes, eine raumgreifende Choreographie mit Kompositionen von Peter Jakober, ein. Der Chor stellt neben den in Bosse’s Arbeiten wiederkehrenden Motiven von Ritualen, Orakel- und Opfermythen einen weiteren Anknüpfungspunkt zu antiken Traditionen dar und hat seine Ursprünge im griechischen Theater. Welche Potentiale solch ein Chor, verstanden als eine raumeinnehmende Versammlung von Körpern mit politisch-ästhetischer Wirkmacht, im Kontext der zeitgenösssischen Theaterproduktion birgt, erforscht Claudia Bosse hier nicht zum ersten Mal: Mehrere Tragödieninszenierungen und Ortsspezifische Interventionen zeugen von ihrer intensiven Auseinandersetzung mit chorischen Aushandlungen. Neu ist der Chor jedoch in der Serie „ORACLE and SACRIFICE“, welche zuvor in einer Solo-Konstellation mit nur wenigen Komplizinnen auf die Bühne gebracht wurde.

Nun fungiert der Chor als zentrales Element im zweiten Abschnitt des Werkes. Es handelt sich um ein Gefüge, welches die Zuschauer*innen erst wortlos gestikulierend ein letztes Mal weiter in den Wald zu gehen auffordert, um dort über ihre Körper sowie über Klang und Kompositionen von Peter Jakober weiter in einen alternativen Daseinszustand eintauchen zu lassen. Choreografisch nehmen sie eine in ORACLE and SACRIFICE 1 entwickelte Bewegungsgrammatik auf: zu sehen sind ruckartige Gebärden, oder das hin und her schleudern von im Mund getragenen Haarbüscheln.

Zwar entziehen sich diese Handlungen konsequent einem rationalen Verstehen, doch entfalten sie in ihrer Andersartigkeit eine archaische Wucht, die zugleich Eindrücke von Gemeinschaft, aber auch von Gewalt und Verletzlichkeit aufkommen lassen.

Claudia Bosse: ORACLE and SACRIFICE in the woods

Während langsam das Sonnenlicht schwindet, entzieht sich der Chor unter mit floralen Motiven bedruckten, bunt gefärbten Decken und wird zu geisterartigen Pflanzenimitationen inmitten der Lichtung oder stellt stumm mit Taschenlampen beleuchtete Topfpflanzen unter die meterhohen Bäume. Abermals koexistiert so Altes und Neues, Künstliches und Natürliches. Nur einmal wird der Chor auch sprachlich wirksam: zeitversetzt beginnen die nun in großen Abständen zueinander positionierten Akteur*innen, die gleichen Sätze zu sprechen, wobei alternierend bei bestimmten Substantiven in ein lauteres Sprachregister gewechselt wird. Es entsteht eine chorische Multiplikation des zuvor von Claudia Bosse allein gesprochenen Zeilen, die abermals Assoziationen von aufgelöster Temporalität sowie von Gemeinschaft auslösen.

Claudia Bosse: ORACLE and SACRIFICE in the woods

Beendet wird die poetische Untersuchung von Politik, Ästhetik und Ökologie von „ORACLE and SACRIFICE in the woods“ durch eine letzte Komposition. Auf metallenen Pfeifen verschiedener Größen entstehen ephemere Klänge, es entsteht eine akustische, nonverbale Kommunikation, zu der sich der Chor langsam in verschiedene Richtungen in den mittlerweile dunklen Wald verliert. Zu sehen und zu erleben ist die Arbeit noch bis (inklusive) 22. Mai 2022.

Das Hörstück samt Karte der Waldlandschaft (zur selbständigen Erkundung des Terrains) ist verfügbar über: claudia bosse / theatercombinat : ORACLE and SACRIFICE in the woods.

theatercombinat – www.theatercombinat.com

brut-wien www.brut-wien.at/de/Programm/Kalender